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In verspielter Gesellschaft – Wo und wie in Wiesbaden unterschiedlichsten Gesellschaftsspielen gefrönt wird

Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka.

Im großen Stil gespielt wird in Wiesbaden seit der erstmaligen Erteilung einer Konzession für Glücksspiel im Jahr 1771. Zuletzt hat die Pandemie der Stadt einen großen Spiel-Schub verpasst. sensor taucht ein in die Szene(n) der Gesellschaftsspiele in Wiesbaden.

Im Gemeindehaus der evangelischen Ringkirchengemeinde stapeln sich die Spiele. Zwar sind zwei der Teilnehmer neu beim wöchentlichen Treffen von „Wiesbaden spielt“. Die anderen acht jedoch haben gleich mehrere Exemplare mitgebracht, die teils frisch von der „Spiel Essen“ stammen.

„Da bekommt man es schnell erklärt und muss nicht erst mühsam eine Anleitung lesen“, erläutert der 35-jährige Felix. Von seinen Neuerwerbungen auf der diesjährigen Ausgabe der weltweit größten Publikumsveranstaltung für Gesellschaftsspiele in Essen bringt er zwei zu dem Treffen mit, an dem der Neu-Wiesbadener zum vierten Mal teilnimmt.

Spiele und Leute kennenlernen

„Nach der Messe hatte ich noch mal mehr Motivation, mir einen Spieltreff zu suchen, um solche Spiele zu spielen“, verdeutlicht Felix. Ein anderer Teilnehmer besucht das Gemeindehaus seit anderthalb Jahren. Beim Treff lerne er sowohl neue Spiele kennen als auch Leute, die an längeren und anspruchsvolleren Spielen interessiert seien. Da man jedoch mittwochs abends zusammenkommt, sei das auch eine Frage der Tagesform. „Wenn es auf der Arbeit anstrengend war, brauche ich nicht noch eine Stunde Regelerklärung vorneweg“, betont der 49-jährige Gordon. An diesem Abend ist das bei einer von drei Gruppen tatsächlich der Fall.

Gordon jedoch schließt sich einem Trio an, das Kürzeres spielen will, nämlich die Reiseversion von Azul und das Kartenspiel Scout. „Mir gefällt es hier sehr gut. Es ist sympathisch, unkompliziert und die Spiele waren gut erklärt. Scout gefällt mir besser, weil es mehr Interaktion bietet“, berichtet die 50-jährige Alexandra. Sie gehört zu den Neuen und will auf jeden Fall wieder im Gemeindehaus vorbeischauen – zur Freude von Tilman Reiffen, der hier auch schon mehr als 30 Teilnehmer erlebt hat, obwohl es im Stadtgebiet noch gut ein halbes Dutzend ähnlicher Angebote gibt.

Vielfältig verspielt

Nachdem das Treffen 2016 von Sebastian Wenzel ins Leben gerufen worden war, hat er eine zweite Ausgabe in Biebrich etabliert. Während in der Stadtmitte derzeit vor allem Expertenspiele beliebt seien, sei der Zugang im Nachbarschaftshaus des größten Wiesbadener Stadtteils niedrigschwelliger. Dort sei auch der Anteil an Frauen und Spielern mit Migrationshintergrund höher. „Ich finde Brettspiele fantastisch für den Zusammenhalt“, erklärt der 37-jährige, der aktuell für beide Treffs verantwortlich ist.

Gemeinschaft entsteht auch, wenn die Gruppe aus der Stadtmitte sich für die Ringkirchengemeinde beim Superblock-Sonntag spielerisch einbringt und Tilman Reiffen in der Stadtteilbibliothek Biebrich einmal im Monat ein Spiel-Angebot für Familien macht. Um das Engagement auf mehr Schultern zu verteilen, plant er derzeit die Gründung eines Vereins, möglicherweise für Wiesbaden und Mainz. Zumal „Wiesbaden spielt“ auch einmal im Quartal zur Brettspielzeit einlädt und in Wiesbaden die „Tage des Gesellschaftsspiels“ zusammen mit den „Phantastischen Spielwelten“ organisiert.

Wiesbadener Spiele-Koryphäe

Hinter den Phantastischen Spielwelten steckt eine der wohl größten Koryphäen, die in diesem Bereich in Wiesbaden aktiv sind. Lutz Stepponat hat 1984 „Merlins“ mitgegründet, das „Fachgeschäft für Spiele und Verspieltes“ am Dern´schen Gelände. Er hat das legendäre Drachenfest mit ins Leben gerufen, das ab Mitte der 1980-er mehrere Jahre Hunderte Rollenspieler in die Stadt lockte, und ein gutes Dutzend Spiele entwickelt. Bereits vor einem Jahrzehnt hat die Konzeption für „Secret Hunters“ begonnen, bei dem jeder Spieler mit seiner Gang versucht, den Herrscher der Unterwelt einer Mega City zu stürzen. Finanziert durch Crowdfunding, sollte das Spiel kurz vor Ausbruch der Pandemie erscheinen. „Zum Glück haben wir es nicht gemacht, denn die Transportkosten nach China haben sich zum Teil verzehnfacht“, betont Lutz Stepponat.

Wer spielt, öffnet sich

Obwohl auch die Preise für grafische Gestaltung oder die Produktion gestiegen seien, gehöre die Spielwarenbranche zu den Gewinnern der Pandemie, insbesondere in Familien. Bereits bei den sonntäglichen Spielrunden mit seinen eigenen beiden Töchtern habe er mehr von deren Lebensrealität erfahren als in anderen Situationen. „Wenn man zusammensitzt und spielt, werden die Kinder offener und erzählen auch untereinander“, berichtet Lutz Stepponat.

Mit Theaterregisseurin Sarah Klöfer hat eine seiner beiden Töchter vor zwei Jahren ein Promotionsstipendium zur Erforschung des Kulturguts Spiel erhalten. Dessen Bedeutung schätzt auch ihr Vater sehr hoch ein. „Es ist ein einfaches Mittel, um soziale Kompetenzen zu vermitteln, und es ist sehr demokratisch: Die Regeln gelten für alle, sind aber nicht absolut bindend. Wenn alle einverstanden sind, etwas zu ändern, ist das auch möglich“, verdeutlicht Lutz Stepponat.

„Stiller Zug“ schult Schach-Nachwuchs

Großen Wert auf Nachwuchsarbeit legt man beim Verein Schachfreunde Stiller Zug Wiesbaden. Bevor sich montagsabends im Infoladen im Hinterhof in der Blücherstraße die Erwachsenen an die Bretter setzen, stürmt eine Bande junger Enthusiasten das Lokal. Für sie hat Jugendtrainer Ivan Jakesevic bereits Schachrätsel vorbereitet, an denen sie ihre Kenntnisse schulen können. Da wird gemeinsam eine Springer-Gabel gesucht oder das einzige Feld, auf dem der König dem Schachmatt entgehen kann.

Zu denjenigen, die besonders viele Ideen und Vorschläge beisteuern, gehört die 12-jährige Lilly. Dank einer Schach AG in ihrer Grundschule widmet sie sich bereits fast ihr halbes Leben lang dem königlichen Spiel, und zwar derzeit täglich zwischen 30 und 90 Minuten. „Das Überlegen und das Auswählen der Taktik finde ich sehr schön. Ich spiele auch Tennis, da ist das ein guter Ausgleich“, berichtet Lilly. Fünf Pokale für einen Platz auf dem Podium hat sie bereits am Schachbrett für sich errungen. Nun aber spielt sie auch im Jugendteam des Vereins: „Da hat man noch mal anderen Druck, weil man der ganzen Mannschaft etwas Gutes bringen kann“.

Grundlagen für die Jüngsten

Für die Allerjüngsten geht es zunächst mal um die Grundlagen. „Floki ist sieben Jahre alt und kann gerade die ersten Buchstaben lesen, aber er spielt schon auf einer App“, erläutert Vater Olaf Does lächelnd. Weil inzwischen gleich zwei Söhne sein Interesse teilen, ist er nun erstmals einem Schachverein beigetreten. Haben die im Jahr 2007 gegründeten Schachfreunde im vergangenen Jahr erstmals eine Nachwuchsmannschaft gemeldet, sind es diesmal schon zwei, und eine dritte ist durchaus denkbar. „Manchmal bleiben die Jugendlichen noch ein bisschen länger und spielen mit den Erwachsenen“, freut sich der Vereinsvorsitzende Stefan Sitta über den fließenden Übergang am gemeinsamen Trainingstag.

Eingeschworene Warhammer-Gemeinschaft

Eine eingeschworene Gemeinschaft sind auch die Fans des Tabletop-Spiels Warhammer. Seit mehr als 21 Jahren betreibt der Hersteller einen Laden in Wiesbaden, seit Anfang November ist dieser in neue Räume in der Friedrichstraße gezogen. „Das ist jetzt einer der vier größten Läden in Deutschland“, freut sich Ladenleiterin Susanne Ihrig. Direkt am Eingang steht ein Tisch, an dem Spielfiguren bemalt werden können, um die Ecke sind Startersets aufgebaut, an denen das Spielsystem erklärt werden kann, und weiter hinten ist an diesem Tag eine kleine Ausstellung mit individuell gestalteten Armeen zu sehen. Regelmäßig werden im Laden Veranstaltungen zu den fünf Säulen des Hobbys angeboten, die neben Spielen auch Sammeln, Basteln, Malen und Lesen umfassen.

Ein Königreich im Schlosspark

Ganz besonders vielfältig sind Rollenspiele, in denen die Teilnehmer verschiedene Charaktere übernehmen. Entweder lediglich in der Fantasie oder beim Live-Rollenspiel, bei dem sie ihre Figur physisch selbst darstellen. So wie die Gruppe, die virtuell im Königreich Sidnalta angesiedelt ist, sich höchstpersönlich aber wöchentlich im Biebricher Schlosspark trifft, um sich in Kampftechniken zu üben. Sebastian Saathoff, der auch mittelalterliches Fechten vermittelt, zeigt den bis zu 15 Mitgliedern der Gruppe, was mit gegossenen Schaumstoffwaffen mit massivem Kern möglich ist.

„Es geht darum, seine Rolle auch körperlich darzustellen“, erklärt der 40-Jährige. Das vermittelte Wissen kommt vor allem auf großen Treffen, den Conventions, zum Tragen. Doch Sebastian Saathoff, der für die Gruppe einmal die Woche auch ein rein in der Fantasie ablaufendes Rollenspiel über Skype anbietet, möchte für das kommende Jahr wieder Handlungen für eigene kleine Live-Rollenspiele schreiben.

Per Live-Rollenspiel in andere Welt

Im Wald bei Naurod hat er eine Stelle entdeckt, die sich gut eignen würde, um ein Abenteuer anzugehen, das in einem Tunnelsystem spielt. Seit einem Jahr gehört eine zierliche junge Frau zur Gruppe. „Ursprünglich wollte ich Schauspielerin werden, das kann ich beim Live-Rollenspiel ausleben“, berichtet Anne Mester begeistert. Nach einem Katzenmensch und einer Elfe stellt sie derzeit eine Schelmin dar. „Bei meiner ersten Convention habe ich auch meine erste Schlacht erlebt. Da habe ich richtig Angst gehabt, weil ich nicht wusste, was da gerade passiert“, erinnert sich die 27-jährige. Doch habe sie seitdem mehr Selbstsicherheit gewonnen und wenn man die richtige Veranstaltung finde, dann mache es einfach Spaß, in eine andere Welt einzutauchen.

Türkisches Kartenspiel im Park

Andere Wiesbadenerinnen treffen sich gerne zu einem Spaziergang, um dann in den Nerotal-Anlagen immer unter demselben Baum ein türkisches Kartenspiel zu spielen, das sich über elf Runden erstreckt. Die meisten sind schon Rentnerinnen, weshalb die Treffen im Sommerhalbjahr teils täglich stattfinden. Manchmal kommen auch ihre Männer dazu, es wird Kaffee mitgebracht und auch mal etwas zu Essen bestellt. „Die Gemeinschaft steht im Vordergrund. Oft wird angekündigt, dass um ein Eis gespielt wird, aber das wird nur selten umgesetzt“, berichtet Nimet Kayaci lachend.

Letzte After Work-Games

In der Kreativfabrik wiederum findet am 28. Dezember ab 18 Uhr die letzte Ausgabe der After Work Games statt. „Wir hatten gehofft, dass sich eine lose Gruppe entwickelt, aber es sind immer neue Leute gekommen“, erläutert Mascha Lankowski. Letztlich sei ihr und Mit-Initiatorin Laura Metz die monatliche Reihe zu aufwändig und auch die Themen seien ihnen ausgegangen. Mal haben sie zu Karten-, mal zu Gesellschafts- oder Kindergartenspielen eingeladen, die zum Abschluss erneut auf dem Programm stehen. Nun stelle sich die Frage, was mit den Spielen passieren soll, die in der Kreativfabrik lagern.

Spielen im „Eimer“

Eine mögliche Verwendung könnte sich im Raucherlokal Der Eimer finden. Hier locken seit Ende Oktober immer donnerstags zwischen 18 und 20 Uhr günstige Getränke-Angebote. Dieser Tag soll als Treff für Würfel- und Kartenspieler etabliert werden. „Man kann natürlich auch zuhause spielen, aber wir wollen eine Möglichkeit bieten, wo die Leute sich kennenlernen können“, meint Inhaberin Tatjana Du Toy van Hees-Thurman. Wenn das Angebot angenommen werde, könne sie sich gut vorstellen, in Zukunft donnerstags auch Brettspiele zum Ausleihen anzubieten.

Einzelhandel-Ideen trotzen Online-Handel

Die sind schließlich populärer denn je. „Während der Pandemie sind Leute zum Spielen gekommen, die vorher gar nicht gespielt haben“, berichtet Harry Schmid, Geschäftsführer bei Merlins. Ein Vergleich mit den Umsatzzahlen aus der Zeit zuvor biete sich zwar nicht an, weil durch die gestiegenen Preise auch die Spiele teurer geworden sind. Doch einige der neuen Spielfans seien dabeigeblieben, und man bewege sich auf einem guten Niveau. Zumal Merlins zu den 10 Traders gehört, einer Gruppe von Händlern, die in Kooperation mit namhaften Autoren bislang zwei Spiele selbst auf den Markt gebracht haben (siehe auch Der große Spiele-Test in dieser Ausgabe). Eine Reaktion darauf, dass Verlage ihre Produkte zunehmend direkt vermarkten. „Da haben wir gesagt: Wir können das auch andersrum machen, dann machen wir selbst Spiele“, erläutert Harry Schmid.

Mit Merlins gehört er zudem zu den Händlern, die den Verein Spieleallianz gegründet haben, mit dem manche Verlage Sonderaktionen durchführen. „Man muss sich abheben, sonst wäre es schwer gegen den Online-Handel zu bestehen“, betont Harry Schmid. Im Internet informieren aber auch Wiesbadener über die Welt der Spiele: Frederik Malsy in seinem rapide wachsenden Brettspiele-Podcast „Der Boardcast“ und Sebastian Wenzel auf dem YouTube-Kanal „Spielama“ sowie mit journalistischen Beiträgen, die die Branche auch kritisch hinterfragen.