Von Maximilian Wegener (Text und Fotos).
Sonntag 12 Uhr im Walhalla im Exil in der Nerostraße. Während draußen auf dem Kochbrunnenplatz Dutzende Wiesbadener die strahlende Frühlingssonne und den wolkenlos blauen Himmel genießen, drängen sich nur wenige hundert Meter entfernt im fensterlosen schwarzen Saal des Exil-Theaters die Zuschauer. Der Andrang ist so groß, dass die Sitzplätze nicht ausreichen. Einige Gäste mussten die Veranstaltung im Gang oder an der Tür im Stehen verfolgen. Sie taten es aber offensichtlich gerne – und ehe man sich versah, waren die rund zwei Stunden rund um das Thema No. 20 der Reihe – „Und jetzt ALLE: Was hält die Stadt ZUSAMMEN?“ – auch schon wieder herum. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist offensichtlich ein Thema, das vielen Wiesbadenern unter den Nägeln brennt. Fünf ambitionierte Projekte wurden vor übervollem Haus vorgestellt, und auch aus dem Publikum gab es etliche Beiträge. Auch OB-Kandidaten gaben sich die Ehre, WVV-Geschäftsführer Rainer Emmel lauschte ebenfalls dem Geschehen.
Es war die 20. Veranstaltung des Think-Tank-Bühnentalks „Der visionäre Frühschoppen“ – und eine Art „Comeback“, genau 260 Tage nach der letzten Veranstaltung „Der visionäre Rueschoppen“ im Rahmen des Wilhelmstraßenfestes vom 9. Juni 2018 und fast genau ein Jahr nach der letzten regulären Ausgabe im Walhalla im Exil. Moderiert wurde der Vormittag wie üblich von sensor-Chefredakteur Dirk Fellinghauer. In einer Zeit, in der Populismus um sich greift und sich die politische Landschaft zunehmend in unversöhnliche Extreme spaltet, in der das Internet von Hassreden, Lügen, Bots und Shitstorms überflutet wird, Vokabeln wie „Fake News“ zu Alltagsbegriffen geworden sind und in der Drohungen und Diskreditierungskampagnen auch vor der Wiesbadener Stadtpolitik keinen Halt machen, stellten sich die Gäste des Frühschoppens diesmal der Frage: „Was hält Wiesbaden zusammen?“. Sechs Talk-Gäste stellten ihre Visionen für ein besseres Miteinander und mehr Zusammenhalt im öffentlichen Leben vor, aber auch das Publikum hatte wieder Gelegenheit, in der „visionären Minute“ seine Projekte und Ideen einzubringen – jeweils in streng gestoppten 60 Sekunden pro Redebeitrag.
Ideen für ein besseres Miteinander von ganz unterschiedlichen Seiten
Gesellschaftlicher Zusammenhalt, das wurde schnell deutlich, ist als Thema so divers wie die Gesellschaft selbst. Kein Wunder also, dass auch die Ideen für ein besseres Miteinander das Thema von ganz unterschiedlichen Seiten anpacken – sei es nun freiwilliges Engagement in der Kulturszene, neue und innovative Konzepte von Kinder- und Jugendbildung, altersgerechtes und selbstbestimmtes Wohnen oder der Einsatz für mehr Demokratie und gegen Populismus und politischen Extremismus.
„Engagement in der Kultur“ organisiert ehrenamtliche Hilfe
Beginnen sollten die Gäste-Vorträge eigentlich mit der Initiative Stadtgemüse Food Coop. Der von dieser Gruppe angekündigte Visionär war aber offensichtlich kurzfristig verhindert. Den Auftakt machte stattdessen Barbara Haker-Klaukien vom Freiwilligen-Zentrum Wiesbaden e.V., und ihrem Projekt „Engagement in der Kultur“, das ehrenamtliche Helfer in alle möglichen Bereiche vermittelt. In diesem besonderen Fall ging es vor allem um freiwillige Mithilfe im Bereich der Wiesbadener Kulturinstitutionen. „Kultur hält die Stadt zusammen“ – ohne Freiwillige, so Haker-Klaukien, sei ein Kulturbetrieb in Wiesbaden aber schlicht nicht möglich. Vor allem hinter den Kulissen spiele sich, manchmal ganz wörtlich, vieles ab, das für die meisten Leute unsichtbar bleibe und dennoch eine Menge Arbeitskraft erfordere – beispielsweise die Arbeit in der Theater-Requisite. Das Freiwilligen-Zentrum habe es sich deshalb zu einer entscheidenden Aufgabe gemacht, interessierte Freiwillige im Kulturbereich an die Hand zu nehmen, sie über die verschiedenen Möglichkeiten und Aufgaben zu informieren und sie mit passenden Institutionen in Kontakt zu bringen. Außerdem gibt es seit einer Weile auch das „Kunsteinsatzkommando“, einen Freiwilligen-Pool für kurzfristige Hilfseinsätze im Kultursektor, beispielsweise für Auf- und Abbauarbeiten an Bühnen.
Creators Collective arbeitet nachhaltig an sozialen Innovationen
Um Nachhaltigkeit und soziale Innovationen geht es dem Creators Collective, einer kreativen Denkfabrik mit Sitz in Wiesbaden, für die Michael Weber auf dem Podium stand. „Unsere Firma will mit Innovationen die Gesellschaft voran bringen“, so Weber. Als Beispiele nannte er ein Projekt für nachhaltige Gastronomie, wie etwa das Restaurant Puurpuur in der schweizerischen Stadt Zug, das Schwerpunkte auf regionale Zutaten, direkte Vernetzung mit den zuliefernden Landwirten und Vermeidung von Ressourcenverschwendung legt. Erwähnung fand auch die Bundesweite Ideenwerkstatt Make your School, bei der SchülerInnen kreativ Verbesserungen an ihren Schulen und am Unterricht erarbeiten können. Und nicht zuletzt sei auch das Creators Collective selbst mit seinen Räumlichkeiten am Bismarckring ein wichtiger Beitrag dazu, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen, denn es schaffe einen offenen Raum für Kreativität und Austausch. Das sei entscheidend, denn „Kreativität und positives Denken bringen eine Stadt zusammen“. Konstruktive Ideen und gegenseitiges Zuhören seien der Schlüssel, man müsse wegkommen vom reflexhaften dagegen-Sein. Vor allem aber, so Weber, dürfe man sich nicht entmutigen lassen, Verbesserungen anzustreben. Eine geplante offene Zukunftswerkstatt bei „Creators Collective“ wird nun wegen Terminkollisionen doch nicht am 27. April stattfinden, ein neuer Termin wird gesucht.
Adrian Metzgers mitreißendes Plädoyer für eine neue Schulbildung
Neue und bessere Formen von Schule und Unterricht sind auch eine Herzensangelegenheit von Adrian Metzger, Geschäftsführer und Projektleiter seiner eigenen Medienproduktionsfirma AMproduction und mit 20 Jahren definitiv der jüngste Redner des Vormittags – und der vielleicht mitreißendste (Hier geht es zum Video seines Vortrags, das seit seiner Veröffentlichung in den sozialen Medien auf großes Echo stößt und vielfach geteilt wird).
Eindrücklich schilderte Metzger seinen eigenen schulischen Werdegang und die Probleme, die er mit dem Schulsystem hatte. Das ganze Bildungssystem sei auf Leistungsdruck aufgebaut, die Leistung werde aber ausschließlich an den Schulnoten festgemacht. Das sei falsch. Abstrakte Schulnoten dürften nicht die Messlatte bei der Bewertung von Menschen sein. Wahre Bildung sei mehr als schulische Leistung und entstehe nicht durch Druck und Lernzwang und auch nicht durch stures Büffeln, sondern durch die Entwicklung von echtem Eigeninteresse. Außerdem sei ein Schulsystem, das ungeachtet individueller Veranlagungen jedem Schüler dieselben Leistungen abverlange, schlicht unfair und ungeeignet, das wahre Potentzial eines Schülers zu erkennen zu entfalten. „Ich war nicht kompatibel“, sagt er über seine eigene Schulzeit – und drückte es drastisch aus: „Ich war 12 Jahre alt – und fertig.“. Seine Rettung war der Wechsel an den Campus Klarenthal. Die individuelle Förderung an der reformpädagogischen Privatschule habe ihm endlich ermöglicht, sein Potenztial zu entfalten und zu erkennen, dass er nicht erst einen Abschluss erreichen musste, um jemand zu sein, „denn ich war ja schon jemand“. Adrian möchte, dass andere Schüler dieselbe Chance bekommen, die er hatte. Deshalb setzt er sich für innovative Bildungsmethoden ein und unterstützt das Bildungsfestival Wiesbaden, eine Initiative der LUCCA-Foundation, das am 7. und 8. September im Schloss Freudenberg stattfinden wird.
Visionäre Minute – Gute Ideen im Schnelldurchgang
In der visionären Minute ging es hoch her. Es gab etliche Meldungen aus dem Zuschauerraum von Menschen, die in 60 Sekunden ihre Vision für mehr Miteinander vorstellen wollten. Zum Beispiel Christine Stibi, Initiatorin des Wiesbadener Glückstags, der mit verschiedenen Angeboten helfen soll, Glück und Zufriedenheit im Alltag zu fördern und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Karoline Deissner rührte die Werbetrommel für die Aktion „Wiesbaden Engagiert“. Adriana Ruiz stellte das Projekt Antoniuspaten vor, das Patenschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vermittelt. Mit der Projektinitiative genossenschaftliches Wohnen präsentierte Xenia Diehl ein Vorhaben, das bezahlbaren Wohnraum für unterschiedliche Lebensentwürfe und Familienkonstellationen schaffen will und dabei Demokratie, Solidarität, Engagement, Selbsthilfe und Selbstorganisation in den Mittelpunkt stellt. Sascha Burjan vom StudioZR6 machte auf den Singer-Songwriter-Contest „Das goldene Z“ aufmerksam, der mit sensor als Medienpartner organisiert wird. Kristine Tauch präsentierte den „The Story Store“, in dem sie ab 15 März gemeinsam mit dem aus Albanien geflüchteten Bledion Vladi Produkte anbieten wird, „die einer wahren und guten Geschichte entsprungen sind.
60-Sekunden-Visionen der OB-Kandidaten – und demnächst ein visionäres Special
Besondere Aufmerksamkeit bekamen die 60-Sekunden-„Visionen“ der anwesenden Kandidaten für die kommende OB-Wahl, Sebastian Rutten (FDP) und Gert-Uwe Mende (SPD). Der Sozialdemokrat appellierte vor allem, die soziale Spaltung zu überwinden und Kinderarmut, die auch in Wiesbaden ein drängendes Thema sei, zu bekämpfen. Kindern sollten grundsätzlich alle Bildungswege offen stehen. Rutten forderte, Freiräume für sozialen Zusammenhalt zu schaffen. Eine Kultur der Anerkennung und Vielfalt in der gesellschaftlichen Teilhabe seien besonders wichtig. Die von Moderator Dirk Fellinghauer spontan geäußerte Idee, einen Visionären Frühschoppen Spezial mit allen bisher bekannten OB-Kandidaten durchzuführen, kam beim Publikum so gut an wie bei den Kandidaten.
Wohnprojekt Horizonte – Gemeinsam statt einsam
Einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgt auch das Wohnprojekt Horizonte, auf dem Podium vertreten durch Mit-Initiatorin Heidi Diemer. Horizonte ist ein Projekt für genossenschaftliches und gemeinschaftliches Wohnen für Menschen ab der Lebensmitte. Insgesamt 12 Frauen und 2 Männer zwischen 59 und 90 Jahren bewohnen seit vergangenem Juni gemeinsam ein Haus.. Jeder Bewohner hat seine eigene Wohnung, alle zusammen mieten aber auch Gemeinschaftsräume, in denen beispielsweise zusammen gekocht, gegessen oder musiziert werden kann. Was Menschen zusammen bringt? Diemer ist sich sicher: „Gemeinsame Identität entsteht, wenn eine Gruppe gemeinsam etwas schafft!“ Es sei ein schwerer Prozess über Jahre gewesen, das Ganze zu realisieren und es sei im Haus auch längst nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Aber das gemeinschaftliche Wohnen gebe gerade im Alter gesundheitlich eingeschränkten Menschen Kontrolle und Selbstbestimmung über ihr Leben zurück, und das sei die Sache mehr als wert. Mit erhobenen Zeigefinger wandte sich Diemer mit einer Forderung an die anwesenden OB-Kandidaten, die großen Beifall im Publikum fand: „Wir brauchen in Wiesbaden jetzt ein Umdenken in der Boden- und Wohnungspolitik und bezahlbaren Wohnraum“.
DEMO gegen „Ugly Sneakers“
Mehr Demokratie und Dialog, weniger Populismus und Hass – und weniger politische „Ugly Sneakers“ – das ist das Motto des Vereins DEMO – Bewegung für Demokratie. Ugly Sneakers, so Referentin Jana Maria Kühnl, seien eine modische Geschmacksverirrung, die ihr medial so lange und so aggressiv aufgedrängt wurden, bis sie selbst nicht mehr gewusst habe, ob sie sie nicht doch haben wolle. Diese Art von Einflussnahme gebe es auch in der Politik und das sei sehr bedenklich. Deshalb setzt sich DEMO dafür ein, politisches Bewusstsein vor allem bei jungen Menschen zu wecken und zu fördern. Der Verein ist bundesweit aktiv, Schwerpunkt ist aber Wiesbaden, wo er verwurzelt ist. Politikverdrossenheit mache anfällig für Populismus und Manipulation. Dem will DEMO begegnen. Man müsse, so Helmut Wiesner von DEMO, Politik näher an die Menschen heran bringen und so präsentieren, dass sie Spaß macht. Dazu organisiert DEMO verschiedene Veranstaltungen und Projekte, wie etwa zur bald anstehenden Europawahl. Mit dem 60/40 am Schlachthof hat DEMO ein geeignetes Forum dafür gefunden. Man stehe aber noch ziemlich am Anfang: „Wir haben wahnsinnig viele Ideen, aber wir brauchen Unterstützung“, sagt Kühnl.
Trotz allem: Optimistisch bleiben und positiv denken
Und das Fazit? Man müsse, da waren sich alle Gäste einig, optimistisch bleiben und positiv denken – negatives Denken und ewige Unzufriedenheit dürften nicht die Gesellschaft beherrschen. Gleichzeitig erging aber auch der Appell für eigenverantwortliches Handeln. Jeder müsse selbst die Initiative ergreifen und sich Gedanken dazu machen, wie man die Gesellschaft verbessern kann. Mit diesen Botschaften der kurzen Schlussrunde, und mit dem Dank des Moderators an alle Beteiligten vor und hinter den Kulissen, endete der 20. visionäre Frühschoppen – zumindest auf der Bühne, denn in der EXIL Bar im Foyer wurde im Anschluss noch rege weiter diskutiert, Ideen ausgetauscht und Kontakte geknüpft. Auch Sebastian Rutten und Gert-Uwe Mende mischten sich unters Volk.
Die Veranstaltung wird auch auf der Website des ehrenamtlichen Projekts Wiesbadener Visionen von Nico Becher und Steve Hoffmann dokumentiert sowie auf Twitter unter #wivisionen. Einen Mitschnitt gibt es außerdem demnächst als Podcast.
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