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Zwischen Lust und Frust: 200 Jahre Fahrrad – ein Grund zum Feiern. Auch in Wiesbaden?

200 Jahre Fahrrad wird 2017 gefeiert. Ist das auch in Wiesbaden ein Grund zum Feiern? Wir lassen Fahrradfahrer allen Richtungen selbst zu Wort kommen – vom Alltagsradler bis zum Aktivisten, von Kindern bis zu Senioren.

Von Dr. Alexander Klar, Annette Bänsch-Richter-Hansen, „Günni“, Karla und Henriette Boder, Clara Holzapfel. Fotos Samira Schulz.

Der Museumsdirektor: Wem genau gehört die Straße?

„In Wiesbaden gilt als ausgemacht, dass die Straße dem Auto gehört. Morgendliches Fahrradfahren auf dem Ring? Ein Spiel mit dem Tod. Fahrradwegebenutzung in der Stadt? Eine Slalomtour um abgestellte Autos. Warten an der Ampel? Nur hinter fünf dicht an den Gehsteig herangefahrenen Wagen mit Wiesbadener Kennzeichen (und einem dem Fahrrad Platz lassenden auswärtigen). Setzt sich der Radfahrer dann via Gehsteig an den fünf Doppelrohrauspuffen (und dem einen normal motorisierten) vorbei an die Spitze der giftigen Kavalkade, beginnt hinter ihm großes Standröhren wütender, um ihre Pole Position betrogener Wiesbadener Kennzeichen.

Der heroische Versuch der Experten des Stadtplanungsamtes, zwischen Museum Wiesbaden und dem neuen Rhein-Main Congress Center den ersten Wiesbadener Platz zu schaffen, auf dem Autos, Fahrradfahrer und Fußgänger gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer sind, wurde vom Vorsitzenden des Ausschusses für Planung, Bau und Verkehr mit den Worten weggebombt, dass es sich bei dem Platz nicht um einen Platz, sondern um eine Straße handele. Dass auch Straßen möglicherweise Orte der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer sind, ist dem Vorsitzenden offensichtlich so fremd wie der Gedanke, dass das Fahrrad ein Fortbewegungsmittel ist.

Genau dies ist in nuce die Katastrophe der Wiesbadener Verkehrspolitik: Allen täglichen Staus zum Trotz, entgegen der Erkenntnis, dass die Straße nicht dazu da ist, dem überdimensionierten Fortbewegungsmittel als Abstellplatz zu dienen und dass dieses Fortbewegungsmittel ausdrücklich keine Atemluft ausscheidet, hält die Wiesbadener Politik aus Feigheit, Opportunismus, mangelnder Streitlust oder Bequemlichkeit an einem Status Quo fest, der diese Stadt als bleierne Provinzhauptstadt dauerhaft zum verkehrstechnischen Schlusslicht macht. Wiesbaden führt in der Statistik der meisten Zweitwagenbesitzer Deutschlands, führt seit Jahren das Ranking der fahrradfeindlichsten Großstädte Deutschlands an und ist darum auch ganz vorne dabei beim Wettbewerb um die höchste Feinstaubbelastung. Solange die Stadt auf diese Rekorde stolz ist, besteht natürlich kein Grund, etwas zu ändern.“

Steckbrief: Dr. Alexander Klar, Alter: 48 Jahre: Beruf/Funktion: Kunsthistoriker / Direktor des Landesmuseums Wiesbaden, ca. zurückgelegte Fahrradkilometer in Wiesbaden pro Woche: 30 km, Stammstrecke: Westendstraße – Auguste-Viktoria-Straße, Fahrrad: Ein Tourenrad der Fahrradmanufaktur aus dem Jahr 1991.

Die Rentnerin: Wenn mal mehr Fahrräder als Autos fahren …

„Denk´ ich an Fahrradfahren in Wiesbaden, muss ich im Jahr 2022 sein, und ich wäre dann 77 Jahre alt. Nicht nur auf der Bertramstraße würden mehr Fahrräder als Autos fahren; ziemlich viele Parkplätze wären bereits in Spielplätze für Kinder und schattige Lauben mit Sitzbänken umgewandelt. In spürbar frischerer Luft könnte man wieder Vogelgezwitscher und das Plätschern der Brunnen hören, und die Menschen wären gelassener und fröhlicher.

Mein Opa hat mir das Radfahren beigebracht, als ich ungefähr fünf Jahre alt war. Das war auf dem Land, und ich lernte es auf einem Damenrad, also aufrecht auf dem Rad stehend. Damals wie heute genieße ich diese Art der Fortbewegung, gemächlich im Schritttempo bis schnell, den Fahrtwind spürend. Auf den Straßen in Wiesbaden ist es nicht klug, das Radfahren zu genießen. Im Gegenteil: man muss höllisch aufpassen, selbst wenn einem die Strecke vertraut ist! Zum Beispiel bei der Ausfahrt des Schrebergarten-Teils der Overbeck-Straße auf den 2. Ring kommend. Es fehlen Spiegel, die den kreuzenden Fußgänger- und Radweg vorher einsehbar machen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Ich bin seit gut fünf Jahren beim Bündnis Verkehrswende Wiesbaden aktiv, von einer Fahrradstadt sind wir noch meilenweit entfernt. Das gibt es in Wiesbaden schon: Fahrradkorso/Critical Mass, Stadtradeln, Parking Day, Schülerkorso, Fahrradnacht, Fahrradfilm-Festival. Gesucht werden Menschen, die im Bündnis mitmachen und/oder unsere Ziele einer Verkehrswende, die letztlich eine Energiewende ist,  mit Ideen und Geld unterstützen.“

Steckbrief: Annette Bänsch-Richter-Hansen, Alter: 71, Beruf/Funktion: Rentnerin/Ärztin, Fahrradkilometer pro Woche: 30-50 je nach Wetter, Stammstrecke: -, Fahrrad: Villiger (Schweizer Fabrikat), wiegt 20 Kilogramm, hat aber Stoßdämpfer, E-Bike in Aussicht.

Der Aktivist: Vom Stress zum Lebensgefühl

„Denke ich an `Fahrradstadt Wiesbaden`…“, dann habe ich schöne Erinnerungen. Die Landeshauptsadt Wiesbaden gilt nicht als Mekka für Radfahrende. Das Auto dominiert den Verkehr und hält so viele Bürger vom Radeln ab. So wundert es mich nicht, dass Wiesbaden bereits zweimal in Folge beim ADFC Fahrradklimatest als fahrradunfreundlichste Großstadt Deutschlands abgeschnitten hat. Und vielleicht gerade dies macht Radeln so besonders glückspendend. Als ich nach Wiesbaden zog, war schnell klar, dass das neue Domizil eine Altbauwohnung im Westend sein musste. Damit war die Entscheidung für die zukünftige Mobilität bereits gefallen, ohne dass mir dies damals bewusst war. Ich wollte schnell, bequem und sicher in der Stadt unterwegs sein, also holte ich mir ein Rad. Zwar bin ich bereits früher zur Schule mit dem Rad gefahren, doch Radfahren in der Großstadt musste ich erst lernen. Seitdem ich mittiger auf der Straße fahre, ist der Abstand zu mir bei Überholungen größer und das Radeln stressarmer.

Mittlerweile ist Radfahren für mich zu einem Lebensgefühl geworden. Ich fahre jeden Tag, egal ob Schnee oder Sonne. Die morgendliche Bewegung neben oder durch den Autostau auf dem 1.Ring ersetzt den Kaffee als Wachmacher. Dass ich kein Exot bin, merke ich jeden ersten Donnerstag im Monat aufs Neue beim Fahrradkorso. Ich wünsche mir, dass die Fahrradstadt sich graswurzelartig entwickelt, in dem noch mehr Menschen einfach anfangen, die Enge des Autos gegen die Freiheit auf zwei Rädern einzutauschen.“

Steckbrief: Günni, Alter: 33, Beruf/Funktion: Radaktivist, Fahrradkilometer pro Woche: 60 km innerorts ohne Touren, Stammstrecke: 1. Ring: a) altes Herrenrad aus Stahl für die täglichen Wege, b) Cannondale F700 cad2 – Volvo edition, c) BMX.

Die Schulkinder: Mehr Rücksicht, bitte! 

„Wir kennen gar nichts anderes als Fahrradfahren in der Stadt, weil unsere Eltern kein Auto haben. Schon als ganz kleine Kinder waren wir nur mit Fahrrädern unterwegs, erst in Hängern bei unseren Eltern, später mit unseren eigenen. Wir fahren kurze und weite Strecken mit unseren Rädern, auch zum Eislaufen, zum Biberbau oder in die Fasanerie. Fahrradfahren macht uns immer Spaß, außer wenn es regnet. Wir fahren aber bei jedem Wetter und ziehen halt einfach was Passendes an. Wenn es unterwegs mal doll regnet, stellen wir uns manchmal unter. Auf langen Strecken sind die Leute mit Autos natürlich schneller, und wenn es regnet und kalt ist, dürfen sie drin sitzen, aber eigentlich macht es uns gar nichts aus, dass unsere Familie kein Auto hat.

Die vielen Autos machen uns manchmal Angst, da müssen wir gut aufpassen. Besonders blöd ist es, wenn wir extra auf Gehwegen fahren und die dann auch ganz zugeparkt sind mit Autos. Die stehen oft ganz quer, und wir kommen nicht vorbei. Im Sommer machen wir große Ausflüge mit dem Rad, manchmal 60 Kilometer an einem Tag, auch in Italien, in Frankreich oder an der Donau. Am tollsten ist es im Urlaub auf der Insel Spiekeroog. Da fahren keine Autos, da können wir ganz alleine rumfahren und müssen nicht dauernd aufpassen und keiner sagt, man soll langsamer fahren und auf die anderen warten.

Bei uns in der Schule fährt wohl niemand so viel Fahrrad wie wir. Heute hat mir (Karla) ein Junge aus der Klasse ein Kompliment gemacht, dass ich am besten von allen Schulkindern fahre. In Wiesbaden wünschen wir uns mehr Fahrradwege und bessere Fahrradwege, und dass nicht immer so viele Autos auf den Fahrradwegen stehen.“

Steckbrief: Karla und Henriette Boder, Alter: 7 und 9 Jahre, Beruf/Funktion: Schülerinnen, Fahrradkilometer pro Woche: 20, Stammstrecke: zum Eislauftraining an der Henkell- Eisbahn, nach Biebrich, zur Domäne Mechthildshausen, zur Fasanerie, Fahrräder: Leichte High-End-BMX-Fahrräder, die Farben (orange und grün) haben wir uns selbst ausgesucht.

Die Alltagsradlerin: Unschlagbar schnell am Ziel

„Fahrradfahren in Wiesbaden ist eine tolle Sache. Mit keinem Verkehrsmittel kommt man in dieser Stadt schneller an sein Ziel als mit dem Fahrrad. Dabei muss man es bloß mit Bussen, Autos, Fußgängern und besonders intoleranten Stadttauben aufnehmen. Ist man mal auf einem richtigen Fahrradweg gelandet, darf man nicht traurig sein, wenn ein verzweifelter Autofahrer ihn schon als Parkplatz verwendet hat. Meine morgendliche Fahrt zur Arbeit wird also nie langweilig und eintönig. Startpunkt ist im Westend, immer bergab geht es in Richtung Innenstadt, die mit Kopfstein gepflasterte Westendstraße in Gegenrichtung der Einbahnstraße hinab und völlig durchgeruckelt hinein in die Wellritzstraße. Trotz eines Autostaus und Vollsperrung vor dem Harput, lasse ich mich nicht beirren und schlängle mich durch die Straße. Am Michelsberg angekommen und die große Kreuzung bezwungen, geht es nun (ganz legal) die Marktstraße hinunter auf das Rathaus zu, den einen oder anderen bösen Blick einer Stadttaube erntend, die den Weg nicht teilen möchte. An der Marktkirche vorbei fahre ich nun durch die schmale Passage zur Wilhelmstraße. Fast am Ziel angekommen ist die Fußgängerampel, die von Autofahrern gerne mal übersehen wird, die letzte Hürde. Endlich am Fahrradplatz des Theaters angekommen, bin ich mir sicher: für mein Fahrrad ist – auch wenn dieser Fahrradparkplatz einer der wohl am stärksten frequentierten in der ganzen Stadt ist – immer noch ein Plätzchen frei.“

Steckbrief: Clara Holzapfel, Alter: 26, Beruf: Assistentin der Orchesterdirektion am Hessischen Staatstheater, Zurückgelegte Kilometer in der Woche: 32, Stammstrecke: Westend – Staatstheater, Fahrrad: Holland-Rad.

 

Neuer Verkehrsdezernent

Zum 1. April hat der Grüne Andreas Kowol sein Amt als neuer Verkehrs- und Umweltdezernent in Wiesbaden angetreten. Der 54-Jährige Nachfolger von Sigrid Möricke, der langjährige Rathaus-Erfahrung in Wiesbaden hat und zuletzt seit 2013 Stadtrat für Infrastruktur, Umwelt und Verkehr in Hanau war, ist passionierter Radfahrer („gefühlt 25 eigene Räder“) und hat in einem Fragebogen „alternative Verkehrskonzepte“ als ein Hobby genannt. „Das Auto wird nicht mehr das Verkehrsmittel der Zukunft sein“, sagte er bei seiner Vorstellung im Rathaus. Man darf gespannt sein, wie konsequent er – mit deutlich besseren Finanzmitteln ausgestattet – den Radverkehr in Wiesbaden voranbringt.

Runder Tisch Radverkehr
Die Fahrrad-Botschaft hat Anfang 2017 den Wiesbadener „Runden Tisch Radverkehr“ ins Leben gerufen. Bei der Auftaktveranstaltung im Januar wurde der Wiesbadener Radziel-Zeiger vorgestellt, ein Instrument, das kontinuierlich die Situation des Radverkehrs über 12 Indikatoren ermittelt und für alle sichtbar macht. Auch die Wiesbadener Fahrrad-Straßenpatenschaften sind beim Runden Tisch Radverkehr zum ersten Mal vorgestellt worden.    www.rtr-wiesbaden.de

Termine und Aktionen  

Fahrradkorso: fröhliche und gemütliche einstündige Rundfahrt quer durch die Stadt mit Teilnehmern aller Altersklassen, jeden 1. Donnerstag im Monat, Treffpunkt 18 Uhr Hauptbahnhof-Vorplatz, www.verkehrswende-wiesbaden.de + ADFC-Fahrradbörse jeweils samstags am 13. Mai,
17. Juni, 16. September, von 10 bis 14 Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz, Verkauf von Fahrrädern und Zubehör ohne Anmeldung und ohne Standgebühr möglich, am Stand des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad Club) gibt es Muster-Kaufverträge sowie Infos rund ums Rad inklusive des aktuellen Tourenprogramms sowie Fahrradcodierung (bitte Personalausweis und Kaufnachweis mitbringen). + Der STADTRADELN-Botschafter Rainer Fumpfei wird am Freitag, 12. Mai, organisiert von Dirk Vielmeyer, auf seiner Deutschland-Tour in Wiesbaden eintreffen. Sven Gerich wird ihn mit einer Rikscha auf der Theodor-Heuss-Brücke begleiten und in der Mitte auf den Mainzer OB Michel Ebeling treffen, um dann gemeinsam (nach einer Aktion auf der Brückenmitte) in der Rikscha in die Mainzer Innenstadt zu fahren. Begleitet werden die drei von den beiden VerkehrsdezernentInnen auf dem Tandem und von der Radverkehrsbeauftragten (Mainz) bzw. der Radverkehrskoordinatorin (Wiesbaden) sowie vielen weiteren Rad-Aktiven aus Wiesbaden und Mainz. +  Zum 3. Wiesbadener RIDE OF SILENCE lädt am Mittwoch 17. Mai, die Fahrrad-Botschaft dazu ein , die Unfallstellen mit schwerletzten und getötenen RadfahrerInnen in Wiesbaden abzufahren, ihrer zu gedenken und auf die jeweils dringend notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit der Radfahrerinnen und Radfahrer in Wiesbaden hinzuweisen. + „2. Wiesbadener FAHRRAD-TAG – wir feiern den 200. Geburtstag des Fahrrades!“ heißt es, organisiert von der Wiesbadener Fahrrad-Botschaft, am Sonntag, 11. Juni, von 10 bis 18 Uhr auf dem Schlossplatz mit großem Bühnenprogramm, Künstlern, Musikern, gastronomischen Angeboten, Wettbewerben, Ausstellungen, Verkehrspolitikern, Vereinen, Fahrradaktivisten, usw. … Darin eingebettet ist um 15 Uhr der offizielle Start des Wiesbadener Stadtradelns. +

Stadtradeln – Startschuss am 11. Juni bis 1. Juli. Bürgerinnen und Bürger Wiesbadens, Privatpersonen, Firmen, Vereine, sind eingeladen, während des dreiwöchigen Aktionszeitraumes kräftig in die Pedale zu treten und dabei möglichst viele Fahrradkilometer – beruflich sowie privat – zu sammeln. Der Startschuss erfolgt am 11. Juni auf dem Schlossplatz. http://stadtradeln.de/ +  Wiesbaden Marathon am 1. und 2. Juli am Jagdschloss Platte mit Bike Marathon über verschiedene Distanzen, Trail Run und Rennen für Kinder. Etliche lokale Radhändler sind vertreten. www.wiesbadenmarathon.de + „Cyclomania“: Die Ausstellung „Cyclomania – Radelnde Frauen“ zum 200. Geburtstag des Fahrrads im Frauenmuseum in der Wörthstraße läuft, höchst sehenswert natürlich auch für Männer, noch bis 29. Oktober.   + Haenel Halbrenner im Schaufenster: Im Fahrradgeschäft All Mountains in der Dostojewskistraße ist ein Original Haenel Halbrenner, Baujahr 1905, mit einer Karbid-Gaslampe als Besonderheit zu bewundern.  Das Rad zeichnet sich durch ein abfallendes Oberrohr und einen sportlichen Lenker aus – und durch damals angesagte Kettenblätter, die nicht wirklich zur Vergrößerung der Übersetzung dienten, sondern lediglich „schnell“ aussehen sollten.

 

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