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Die Macht der Straße – Noch nie wurde in Wiesbaden so viel demonstriert

Wenn die AfD in Wiesbaden auftaucht, ist der Gegenprotest nicht weit. Auch heute (22. September) findet anlässlich des Wahlkampf-Finales der AfD auf dem Dern´schen Gelände eine Protestkundgebung des breit aufgestellten Wiesbadener Bündnis für Demokratie statt. „Für ein offenes Wiesbaden – gegen völkischen Einheitsbreit“ heißt es ab 17.30 Uhr.

Von Hendrik Jung. Fotos: Till Christmann, Dirk Fellinghauer.

Wiesbaden ist vielleicht nicht das Mekka deutscher Demonstrationskultur. Aber auch hier gehen regelmäßig Menschen auf die Straße. In diesem Jahr so oft wie noch nie. sensor ging mit auf die Straße, beobachte unterschiedliche Geschehen und sprach mit Akteuren – mit allen Demo-Wassern gewaschenen Veterane ebenso wie mit jungen oder spätberufenen Neulingen.

Die Wellritzstraße ist im Freitag-Abend-Modus. Die Terrassen der Restaurants und Cafés sind voll besetzt und überdimensionierte Fahrzeuge mit Frankfurter Kennzeichen stehen mitten in der Fußgängerzone. Das bunte Treiben wirkt, als würde es sich um sich selbst drehen, wie die Rundungen einer Bauchtänzerin um ihren Nabel. Das Flackern des Blaulichts und die Rufe durch ein Megafon müssen schon nah herankommen, bis sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen. Transparente mit Aufschriften wie „Frauen, die kämpfen, sind Frauen, die leben. Lasst uns den Staat aus den Angeln heben“ sorgen für verständnislose Reaktionen vor einem Barber-Shop. Aus einem Fenster im ersten Stock aber wird ein Daumen nach oben gereckt.

Spontaner Applaus nach Schweigeminute

Zwei Frauen türkischer Abstammung genießen ihren Feierabend genau an der Straßenecke, an der ein halbes Jahr zuvor der Frauenmord stattgefunden hat, an den die gut 120 Teilnehmer der Demonstration erinnern. Beide haben großes Verständnis für die Forderung, Femizide zu verhindern. Sie stehen von ihren Stühlen auf und applaudieren der Kundgebung, nachdem die Schweigeminute verstrichen ist. „Es ist schade, dass keine ausländischen Frauen mitlaufen. Sie haben leider Angst vor ihren Vätern, Männern und Familien“, bedauert Hülya Dikgöz. Leider wüssten Frauen mit Migrationshintergrund oft nicht, wo sie Hilfe erhalten könnten. „In der Türkei ist es noch schlimmer, da gibt es kaum staatliche Hilfen. Da müssen Frauen ruhig sein und tun, was der Mann sagt“, ergänzt Diler Koc.

Mit Demos Themen in die Öffentlichkeit bringen

Ganz anders verhält es sich in der Gruppe von Mittzwanzigern, die die Demonstration organisiert. Hier sind die jungen Frauen deutlich in der Mehrheit. „Demonstrationen sind eine wichtige Art der Meinungsäußerung, um Themen in die Öffentlichkeit zu bringen und Leute im persönlichen Gespräch zu erreichen“, sagt die Frau, die die Veranstaltung angemeldet hat. Sie habe auch schon Kundgebungen angemeldet, die sich kritisch mit Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auseinandergesetzt haben. „Aus linker Perspektive“, wie sie betont.

Politischer Aktivismus kostet

Meist werde bei den Veranstaltungen eine Spendendose herumgegeben, in der Hoffnung, dass ein Teil der Investitionen in Druck- oder Fahrtkosten zurückfließe. „Aber bei politischem Engagement ist es oft so, dass man was drauflegt“, verdeutlicht die Aktivistin. Die Redebeiträge zu Beginn der Demonstration setzen sich neben Femiziden auch mit Sexismus auseinander, was ein paar Außenstehende irritiert. Drei Jugendliche können weder viel mit Kritik an Männern anfangen, die nicht lecken wollen, aber nach Blowjobs schreien, noch mit anderen Thesen.

„Da steht Kill All Men, dabei werden sie auch von Männern unterstützt. Das ist einfach nur dumm“, findet der 16-jährige Ghaeth. Was nicht bedeutet, dass er den Kampf für Frauenrechte ablehnt. Er glaubt jedoch, dass diese bereits erreicht sind. Selbst demonstriert haben die drei Jungs noch nicht, aber sie sind daran interessiert zu erfahren, was andere zu sagen haben.

Engagement für verschiedenste Themen

Eine 56-jährige Teilnehmerin ist dankbar, dass sich junge Leute gefunden haben, die die Demonstration organisieren. Sechs bis sieben Mal im Jahr gehe sie mittlerweile wieder auf Demonstrationen, da ihre Kinder inzwischen erwachsen sind. Außer der Situation der Frauen bewegt sie der Klimawandel sowie rechter Populismus. Bei einer Gegendemonstration zu den sogenannten Gelbwesten habe sie in Wiesbaden auch schon unangenehme Erfahrungen mit der Polizei gemacht. „Ich bin einfach nur mitgelaufen und war wohl nicht schnell genug. Da bin ich richtig körperlich bedrängt worden“, berichtet die Naturwissenschaftlerin.

Die Rolle und der Handlungsspielraum der Polizei

„Das kann man nicht ausschließen. Es ist immer die Frage, was vorgegeben wird. Wenn die Straße für den Verkehr freigegeben werden soll, muss man irgendwann handeln“, erklärt Polizeirat Thomas Wichter. Er ist an diesem Tag als Polizeiführer im Dienst und erläutert die Rolle der Ordnungskräfte. Diese seien in erster Linie vor Ort, um das Recht auf Versammlungsfreiheit zu garantieren. Grundsätzlich dürfe dabei nicht gefilmt werden. Nach § 27a des Bundespolizeigesetzes darf dies nur dann erfolgen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass eine Aufzeichnung erforderlich ist, wie etwa durch eine Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum. „Das ist natürlich eine Frage des Standpunkts. Eine Gefahr, die wir sehen, muss man nicht immer auch von der anderen Seite sehen“, räumt Thomas Wichter ein.

Einschreiten soll verhältnismäßig sein

Zu den Aufgaben der Einsatzkräfte gehöre aber eben auch, die Beeinträchtigungen für den Verkehr auf ein möglichst geringes Maß zu reduzieren und auf die Einhaltung der Auflagenverfügungen der Versammlungsbehörde der Stadt Wiesbaden zu achten, sofern diese Kontrolle nicht seitens der Behörde selbst erfolgt. Verantwortlich für die Einhaltung der Auflagen, die vom Streckenverlauf einer Demonstration über die zulässige Lautstärke bis zum Tragen medizinischer Mund-Nasen-Bedeckungen reichen können, sei die Versammlungsleitung. Wenn diese nicht dafür sorgen kann oder will, könne eine Versammlung in letzter Konsequenz auch aufgelöst werden. „Es ist aber nicht immer möglich Verstöße zu ahnden. Wie man einschreitet, muss immer verhältnismäßig sein“, betont Thomas Wichter.

Kämpferische „Omas gegen Rechts“

Verhältnismäßig unzufrieden mit dem Vorgehen der Ordnungskräfte zeigt sich die Wiesbadener Ortsgruppe der „Omas gegen Rechts“. Ihnen geht es darum, dass gegen die Verstöße von Querdenkern gegen Auflagen, die dem allgemeinen Gesundheitsschutz dienen, bei deren Demonstrationen wiederholt nicht eingegriffen worden ist. Nach ihrer Ansicht ist das eine Form der stillschweigenden Duldung durch die Ordnungskräfte, gegen die sie im Frühjahr mit einem offenen Brief protestiert haben. Kämpferisch zeigen sich die Omas, zu denen durchaus auch Opas gehören, regelmäßig, wenn es gilt, Stellung zu beziehen für eine freie und gerechte Gesellschaft, für geflüchtete Menschen sowie für Respekt gegenüber allen Menschen.

„Ich will nie gefragt werden müssen: Warum habt Ihr nichts gemacht?“, verdeutlicht Irene Fromberger. Sie hat die Wiesbadener Gruppe Ende 2019 ins Leben gerufen, seit sie nach ihrem Berufsleben die Zeit dazu hat, sich politisch zu engagieren. Sie ist nicht die einzige Mittsechzigerin, die sich derzeit unangenehm an ihre Jugend in der Nachkriegszeit erinnert fühlt. „Wir haben alle noch die Folgen des Zweiten Weltkriegs erlebt. Da kommt einem sehr vieles wohlbekannt vor“, ergänzt Beate Booß. Sie hat sich gerade für eine Buchveröffentlichung sehr intensiv mit der AfD auseinandergesetzt und fordert: „Wehret den Anfängen“. Im Frühjahr hat die Gruppe mit ihren rund 60 Mitgliedern aber auch für eine von ihr selbst initiierte Aktion gut ein Viertel der bundesweit 4.500 Unterschriften für eine Evakuierung der Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln gesammelt.

Aktiv gegen die AfD im Bundestagswahlkampf

Auch in den laufenden Bundestagswahlkampf mischen sich die „Omas gegen Rechts“ ein. Bis zum Wahltag werden sie mit Infotischen in der Fußgängerzone mehrmals mit Infotischen präsent sein. Dort bieten sie auch ihr gemeinsam mit Omas aus Wiesbaden, Frankfurt und Mainz erarbeitetes neues Buch „‚Entschlossen die Demokratie verteidigen – gemeinsam die AfD zurückdrängen“ zum Verkauf an. Ihre Überzeugung: „Die AfD stellt sowohl die im Grundgesetz verankerte politische Ordnung als auch unsere Gesellschaftsordnung und die allgemeinen Grund- und Menschenrechte in Frage. Demokratien sind, wie uns Weimar gelehrt hat, sehr verletzlich. Antidemokratische Kräfte lassen sich weder einhegen noch zähmen.“

Regeln für eine Demo – und ein Rekordjahr

Versammlungen sind grundsätzlich nicht genehmigungspflichtig, sollten aber nach Möglichkeit 48 Stunden vor ihrer Bekanntmachung angekündigt werden. Das Online-Formular für die gebührenfreie Anmeldung einer Versammlung unter freiem Himmel findet sich, wenn man bei der Suchmaschine seines Vertrauens die Begriffe Versammlung und Wiesbaden eingibt. Im vergangenen Jahr haben in Wiesbaden so viele Veranstalter von ihrem Versammlungsrecht Gebrauch gemacht, wie wohl noch nie zuvor. Schon 2019 ist mit 158 eine vergleichsweise hohe Anzahl an Versammlungen durchgeführt worden. 2020 ist die Zahl dann auf 230 gestiegen und in diesem Jahr waren es bis Ende Juli bereits 206. „Das ist im Zusammenhang mit Corona und der Einschränkung der Grundrechte zu sehen“, ist sich Matthias Hofmeister sicher, der in Wiesbaden die Abteilung Ordnungswesen leitet. Auch die Rolle als Landeshauptstadt trägt zum hohen Demonstrationsaufkommen bei. Immer wieder ist der Landtag Ziel von Demonstrationen, für die dann mitunter hessen- oder gar bundesweit mobilisiert wird.

Massenwirksame und nischige Demo-Anliegen

Aber in den vergangenen zweieinhalb Jahren haben auch eine Vielzahl anderer Themen die Menschen beschäftigt. So hat es Versammlungen gegeben mit Themen und Anliegen von rechten Strukturen in der hessischen Polizei bis zu „das Gespenst der kommunistischen Partei in China eliminieren“. Von Veganismus bis CO²-Reduktion ist Massenmord. Von Frieden in unfriedlichen Zeiten bis zur Tarifrunde im Bauhauptgewerbe. Die Zahl der Teilnehmer kann dabei in Wiesbaden mehrere Tausend Menschen erreichen, kann jedoch bei Mahnwachen auch mal nur aus zwei Personen bestehen.

Fridays for Future fand Demo-Alternativen

Diese Form einer dezentralen Kundgebung hat etwa die Wiesbadener Ortsgruppe von Fridays for Future (FFF) während der Zeit der Kontaktbeschränkungen genutzt, weil dies mit Mitgliedern eines Haushalts möglich gewesen ist. Als alternative Mittel hat man darüber hinaus Straßenmalkreide eingesetzt oder Transparente aus Fenstern gehängt sowie den natürlichen Abstand bei Demonstrationen per Fahrrad genutzt. „Es ist nach wie vor nicht leicht. Je nachdem wie man die Abwägung trifft, mit der Situation verantwortungsvoll umzugehen“, betont Silas Gutdeutsch.

Wie man bei FFF Wiesbaden in diesem Herbst auf die Forderung nach Klimagerechtigkeit aufmerksam machen wird, könne er noch nicht sagen. Auf jeden Fall plane die Bewegung, am 24. September, dem Freitag vor der Bundestagswahl, einen globalen Klimastreik durchzuführen. Den großen Erfolg der Bewegung sieht der 25-Jährige darin, dass das Thema in kurzer Zeit bereits so viele Menschen erreicht hat, dass mittlerweile niemand mehr daran vorbeikommt.

„Das ist etwas Besonderes, was wir erreicht haben. Abgesehen davon, dass keine Partei konsequentes Handeln vorschlägt, ist der Klimawandel für jede ernst zu nehmende Partei ein wichtiges Thema“, verdeutlicht Silas Gutdeutsch. Der Hamburger, der in Wiesbaden studiert, hat sich auch bei der Gründung der Wiesbadener Lokalgruppe der Seebrücke eingebracht, an örtlichen Black Live Matters-Demonstrationen teilgenommen und sich mit FFF für die City-Bahn eingesetzt. „Weil wir nach wie vor dafür sind, dass man sich gemeinsam und ökologisch bewegen sollte“, begründet der angehende Media Manager sein Mehrfach-Engagement.

Urgestein der Protestbewegung

In vielen Bereichen gemeinsam mit anderen etwas bewegt hat auch Michael Wilk, ein Urgestein der Wiesbadener Protestbewegung. Ein gutes Beispiel sei, dass der einst auf der Ingelheimer Aue geplante Bau eines Kohlekraftwerks verhindert werden konnte. Ein Erfolg ist es aber auch, wenn jetzt aktive Proteste aus dem Rheingauviertel dafür sorgen, dass die AfD darauf verzichtet, das Hilde-Müller-Haus für Veranstaltungen zu nutzen.

„Manchmal dauert es, bis man erfolgreich ist, wie bei den Atomkraftwerken. Es hat 40 Jahre gebraucht, bis der Widerstand dagegen gesellschaftlich etabliert ist, und es ist noch nicht zu Ende“, verdeutlicht der 64-jährige. In seinem jahrzehntelangen Engagement hat er erlebt, dass der Umgang zwischen Protestkultur und Polizeikräften sich durchaus gewandelt hat. So hätten die Mitglieder der Anti-AKW-Bewegung bei Demonstrationen in Brokdorf früher Helme getragen in Erwartung von Polizeiknüppeln. Inzwischen ist das Tragen von Helmen aufgrund des Schutzwaffenverbots jedoch nicht mehr gestattet. Aber auch die Schüsse an der Startbahn West seien eine Katastrophe gewesen.

Demos als Einstieg zum Engagement

Mitte der 1970-er Jahre hat Michael Wilk in Wiesbaden zu den Mitbegründern des bis heute existierenden Arbeitskreis Umwelt gehört. Dieser habe sich schon damals weder im Fahrwasser der Parteien befunden noch zu kommunistischen Studentengruppen gehört, sondern auf Eigenverantwortung und Selbstorganisation gesetzt. „Man muss machen, was man für richtig hält. Aber nicht im Sinne von Querdenken, sondern immer mit solidarischem Hintergrund“, betont der Mediziner, der auch als leitender Notarzt arbeitet. In der heutigen Zeit vermisse er den Mut, Utopien zu entwickeln, weil diese elementar für gesellschaftliche Entwicklung seien. Sich für das einzusetzen, an das man glaubt, müsse dabei nicht immer bei Demonstrationen geschehen. „Das kann ein Einstieg sein, für ein breiteres gesellschaftliches Engagement, aber es darf nicht dabei bleiben“, findet Michael Wilk.

Impressionen von unterschiedlichsten Demonstrationen in Wiesbaden: