Von Hannah Weiner. Fotos Heinrich Völkel und Andrea Diefenbach.
Eingeschlafen – das ist die kollektive Meinung über die Wiesbadener Feierkultur. Stimmt das Klischee? Oder hat die Kurstadt vielleicht doch das Zeug zur Kultstadt?
Statt Glitzer und Konfetti liegt in Wiesbaden ein Hauch von Resignation in der Luft. Man schwelgt in Erinnerungen an wilde, vergangene Jahrzehnte, als nicht nur Frankfurter und Mainzer nach Wiesbaden kamen, um sich hier die Nächte um die Ohren zu schlagen. Die aktuelle Stimmungslage dagegen gleicht einem Katermorgen: Müdigkeit, Antriebslosigkeit, flaues Gefühl im Magen. Aber woran liegt das? Die Theorien der Nachtleben-Macher sind vielfältig. Es gebe wegen des hohen Altersdurchschnitts nicht genug Nachfrage, sagen die einen. Aufgrund der strengen Ordnungspolitik sei das Risiko so hoch, dass sich keiner mehr etwas traue, finden andere. Doch es gibt Hoffnungsschimmer auf dem harten Pflaster. Ambitionierte Neulinge bahnen sich – auch abseits offizieller Wege in temporären und improvisierten Locations und auf Partys mit klarem Underground-Charakter – ihren Weg durch die Festgefahrenheit der Kurstadt. Und bei manch alten Hasen im Geschäft läuft es gut wie nie zuvor. Aller Anfang ist jedenfalls schwer, wenn man im hiesigen Nachtleben Fuß fassen möchte. Nach Locationsuche und Behördengängen wartet noch die größte Hürde: Die Wiesbadener langfristig zu überzeugen. Als Kaan Gökalp 2006 das Park Café übernahm, blieb sein Laden die ersten zwei Jahre leer. „Man wollte uns nicht haben, weil wir nicht von hier waren“, erzählt der Frankfurter. Nur mit eisernem Willen konnte er diese Zeit voller Ablehnung überstehen. „Das Wiesbadener Publikum ist schwierig“, begründete kürzlich Pascal Hedrich seinen Entschluss, den Club Cubique auf der Taunusstraße nach sechs Jahren zu schließen.
Wer durchhält, wird belohnt
Läden wie das Gestüt Renz, das New Basement oder der Schlachthof, scheinen dagegen dauerhaft magnetische Wirkung zu haben. „Eigentlich ist im Nachtleben für jeden etwas dabei“, findet Jörg Lichtenberg vom Gestüt Renz. Das von Nadine Gärtner geführte Tanzlokal in der Nerostraße feierte kürzlich Zehnjähriges. „Und es läuft so gut wie nie“, freut sich Lichtenberg. Auch das Kulturzentrum Schlachthof ist eine Erfolgsstory. Über Landesgrenzen hinaus zieht es Publikum für Partys und Konzerte in die Stadt. Man begann als belächelter Freak-Treff und habe heute den gleichen kulturellen Stellenwert wie das Staatstheater, erzählt Carsten Schack, einer der Geschäftsführer der Institution, die „seit 19 Jahren kollektiv und unabhängig betrieben“ wird. Seine Theorie: „Entweder sind wir zum Establishment geworden oder das Establishment wie wir.“ Auch die Kreativfabrik, etwas unauffälliger beheimatet im Keller gegenüber, hat sich zu einer Institution gemausert. Der Vorsitzende Sebastian Schäfer sieht eine positive Gesamtentwicklung in Wiesbaden: „Es gibt für die alternative Szene jetzt richtig Auswahl“. Die „Krea“, die im März fünften Geburtstag feiert, bietet jungen Bands und innovativen Party-Formaten eine Möglichkeit sich auszuprobieren. Dass es einen Markt dafür gibt, zeigt die hohe Nachfrage. „Unsere Erwartungen wurden massiv übertroffen“, freut sich Schäfer. Nach den Startschwierigkeiten „boomt und brummt“ auch das Park Café wieder. „Es ist wichtig nicht zu stagnieren und immer neue Ideen zu entwickeln“, erklärt Kaan Gökalp. Genau das praktiziert der Kulturpalast, der sich in den letzten Jahren weit über Liveveranstaltungen hinaus zu einem veritablen Club entwickelt hat. Mit unterschiedlichsten Partyformaten von Indie über Punk und Rock bis Elektro deckt der „Kupa“ nicht nur einen großen Geschmacksradius abdeckt, sondern lockt auch ein beachtliches Altersspektrum in die Saalgasse. „Das Wiesbadener Nachtleben ist bunt und vielfältig, bekommt aber leider nicht immer die Aufmerksamkeit die es verdient“, sieht Ulf Glasenhardt, der den Kulturpalast seit über zehn Jahren leitet, in Sachen Resonanz noch Luft nach oben.
Eine Geschichte vom Scheitern
„Sie sind wie eine Schafherde immer auf der Suche“, analysiert der ehemalige Barbesitzer Benjamin Pontani die Ausgehgewohnheiten der Wiesbadener. Mit der Cantina Fiesta sorgte er sieben Jahre in der Wörthstraße für wohligen Unterschlupf mit Eckkneipen-Charme. Er wollte eine „Spielwiese mit Wiesbadener Substanz“ bieten, auf der die Stadt sich selbst entdecken und entfalten könne. Pontani, seine Gäste und das Fiesta hatten eine abenteuerliche und schillernde Zeit. Aber es gab auch Probleme mit Anwohnern und dem Ordnungsamt. Alles endete in einer unfreiwilligen Schließung im vergangenen Jahr. Fast ein Jahr hätten anonyme Anrufer jeden Abend die Polizei wegen Ruhestörung geschickt. Mitte 2013 dann standen eines Sonntagmorgens um 5.05 Uhr zwei Polizisten in der Kneipe. Wegen Überschreitens der Sperrstunde bekam Pontani eine Anzeige. Anschließend habe man ihn von städtischer Seite bis zur Schließung unter Druck gesetzt, erzählt er. Seitdem vertritt er die Theorie, dass die Stadt systematisch einige Gastronomen unterstütze und anderen das Leben schwer mache.
Die härteste DJ-Schule
Auch heute gibt es Kreative, die mit neuen Ideen das Nachtleben aufmischen wollen. Michalis Thessaloniki etwa kündigt an, frischen Wind an die „eiskalte Front der Provinz“ zu bringen. Er veranstaltet Mottoabende mit „ausländischen Tunes“ in der Bar Chopan. „Für DJs ist Wiesbaden die härteste Schule“, weiß Thessaloniki. Sein folkloristisch-elektronischer Mix mit verschiedenen orientalischen Einflüssen ist nicht gleich auf offene Ohren gestoßen. Die Unberechenbarkeit des Publikums stellt auch Damir Spanic vor ein Rätsel: „Man kapiert einfach nicht, wer hier die Stellschrauben dreht.“ Zusammen mit Samuel Kedzia ist er seit vergangenem Jahr unter dem Namen Mahagoni.Edelholz. mit elektronischer Musik in der Stadt unterwegs. „Wenn die Leute laute Musik hören, rufen sie direkt die Polizei“, beklagt der DJ die Grundstimmung der Partykultur gegenüber. Das Kurstadtgedankengut ersticke viel im Keim. Benjamin Marvasti steht mit seinen 23 Jahren für die nachwachsende Generation. Mit „Kollektiv Wiesbaden“, einem Zusammenschluss lokaler Künstler, will er die umtriebige junge Elektro-Szene besser aufstellen. „Das Ordnungsamt ist sehr penibel“, musste er dabei lernen. Genehmigungen für Events würden nur sehr selten und unter vielen Auflagen erteilt.
Spiel, Spaß, Sperrzeit
4.45 Uhr – Licht an, Musik aus. Die Party ist vorbei. Doch nicht wegen Beschwerden der Nachbarn muss René Romahn seinen Club New Basement in der Schwalbacher Straße um 5 Uhr schließen. Das Problem ist die Sperrzeit. „Für viele, die feiern wollen, ist das ein Grund, gar nicht erst nach Wiesbaden zu kommen“, ist Romahn sich sicher. Besonders die elektronische Szene hat an der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhestunde zwischen 5 und 6 Uhr morgens und dem Feiertagsgesetz, das öffentliche Tanzveranstaltungen an den drei stillen Feiertagen verbietet, zu knabbern. Trotzdem ist das New Basement in der Elektro-Szene bekannt und beliebt. „Die Wiesbadener feiern geiler als die Mainzer“, findet Romahn sogar inzwischen und lädt im Februar zur 5-Jahres-Sause in seinen angesagten Kellerclub. Für die Stadtpolitik hat er wenig Verständnis: „Wenn alles verboten wird, wenden sich alle ab.“ Zu Sperrzeit und Feiertagsgesetz sagt Ordnungsdezernent Dr. Oliver Franz: „Das ist geltendes Gesetz und verlangt Beachtung.“ Auch in Zukunft will der seit seinem Amtsantritt im Oktober als Hardliner geltende CDU-Politiker nur zurückhaltend von Ausnahmegenehmigungen Gebrauch machen. Daniel Soave, DJ und Produzent, sieht in der strikten Durchsetzung dieser Gesetze eine Gefahr für den wirtschaftlichen Erfolg der Clubs. „Früher hat man viel mehr machen können“, erinnert er sich an Wiesbadens wilde Zeiten. Vor zehn bis 15 Jahren sei dann der Umschwung gekommen. Wegen der vielen Auflagen trauten sich die Meisten nicht mehr, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen.
Die Nische als Chance
Was also tun? Vielleicht lieber bei gediegener Musik einen Cocktail im frisch eröffneten Lenz schlürfen, im Manoamano einen guten Whiskey nippen. Bars haben es leichter im Nachtleben dieser offenbar höchst ruhebedürftigen Stadt. Läden mit einer Mischung aus Wiesbadener Chic und Szeneflair sind beliebt. „Nischen zu finden ist wichtig“, rät Ivana Fischer, die in ihrer Bar N7 in der Nerostraße kürzlich auch erstmals eine „Pussy Party“ speziell für lesbisches Publikum veranstaltet hat. „Da kamen Leute aus Mainz und Frankfurt“, erzählt sie. Eine Erfolgsgeschichte ist auch die von Daniel Delrue und Sten Brüderlin. Seit 18 Jahren lenken sie erfolgreich die ReizBar in der Goebenstraße, seit einem Jahr zusätzlich Mephistos Bullenstall in der Wartburg durch die unsicheren Gewässer des Wiesbadener Nachtlebens. Anfangs mussten auch sie kämpfen. „Das erste halbe Jahr war schwer“, erzählt Delrue. Doch jetzt zum einjährigen Bestehen laufe der Laden gut. Zabi Zadran, Chef vom Chopan in der Bleichstraße, blickt optimistisch in die Zukunft der Partykultur, besonders was die Generation der Anfang Zwanzigjährigen angeht: „Das, was da nachkommt, ist nicht mehr das spießige Wiesbaden.“
Dass sich etwas tun wird, hofft auch Ivana Fischer: „Es kann schlechter kaum werden.“ Eines der Probleme sei die geringe Akzeptanz in der Bevölkerung, glaubt sie. Dafür ist die Nerostraße das beste Beispiel. Früher reihten sich hier Bar an Club an Kiosk an Kneipe. Die Anlieger hätten sich davon gestört gefühlt und sogar einen Verein gegen die Gastronomie gegründet, erzählt Fischer. Seitdem gibt es aufgrund der strengen Auflagen in der Nerostraße nur noch ein Tanzlokal, eine Bar und eine Shisha Lounge. „Anwohner und Ordnungsamt arbeiten Hand in Hand“, glaubt die Gastronomin. Dr. Franz hingegegen definiert die Aufgabe seines Amtes als Vermittler zwischen Anwohnern und Gaststätten-Betreibern. „Da kann man es nicht immer allen recht machen“, weiß er. Doch trotz Gegenwind aus der Bevölkerung und unbeliebten Gesetzen weht eine frische Brise des Tatendrangs durch die Stadt. „Nehmt eure Stadt ernster, liebt eure Heimat. Gebt dem, was hier passiert, mal eine Chance“, appelliert Samuel Kedzia an die Wiesbadener. Denn nur sie können ihre Stadt aus dem Dornröschenschlaf wecken.