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Klappe, Filmstadt, die Nächste! Neues Branchen-Netzwerk plant in Wiesbaden den Aufbruch in die Zukunft

Von Holger Carstensen. Fotos Kai Pelka.

Auch in Sachen Filmstadt schaut Wiesbaden gerne in den Rückspiegel. Dabei ist der Blick nach vorn viel spannender. Spätestens jetzt, wo sich in einem neuen Netzwerk die Kräfte, die in dieser Stadt bisher eigene Süppchen gekocht haben, ballen.

Um es aus dem Weg zu schaffen: Ja, vor vielen Jahren wurde in der Landeshauptstadt mal der Nachkriegs-Kassenschlager „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ gedreht. Mit der unvergessenen Romy Schneider. Und ja: Auch das ZDF war für einige Jahre im Studiokomplex der Taunusfilm Unter den Eichen ansässig, bevor es dann schließlich auf den Lerchenberg nach Mainz umzog. Ungefähr zur Zeit dieses Umzugs wurde übrigens der Trolley, der Koffer mit Rollen erfunden. Dazu später. Das ist alles lange her: vergangen, vergessen, vorbei.

In nicht ganz so verstaubter Vergangenheit kann sich Wiesbaden damit rühmen, Schauplatz des blutigsten „Tatorts“ der Geschichte gewesen zu sein: 2013 stapelten sich zwischen 40 und 47 (Film-) Leichen (je nach einschlägiger Fanboy-Websiten-Zählung) auf dem Bowling Green vorm Kurhaus, hinterlassen von Kommissar Murot alias Ulrich Tukur. Ist seitdem in Sachen Filmbranche in Wiesbaden irgendetwas passiert? Natürlich. Jede Menge. Täglich. Aber bislang vielleicht eher von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt. „Und was?“ „Eine Art… Rollkoffer.“

Der Rollkoffer-Moment

Rollkoffer? Rollkoffer. Oder Trolley. „Warum hat es so lang gedauert, bis der erfunden wurde?“, fragt Uwe Stellberger, Medienreferent im Kulturamt der Stadt Wiesbaden, verschmitzt. Eigentlich ein Konter auf die Frage danach, warum es seiner Meinung nach so lang gedauert, bis die Filmschaffenden, Festival- und Kinokultur gestaltenden Menschen dieser Stadt so lange gebraucht haben, sich in einem Netzwerk zu organisieren – dem Verein „Netzwerk Filmstadt Wiesbaden e.V.“. Die Zeit einer Idee muss eben gekommen sein. „Wir haben hier ja einige Pfunde, mit denen wir wuchern können: unsere zahlreichen Filmfestivals, mit dem Caligari laut The Guardian eines der schönsten Kinos der Welt, – eine lebendige Kulturszene. Als Stadt kann und muss ich mich ja auch entscheiden: Wuchere ich mit dem Pfund?“. Soll heißen: Der Verein betritt die Bühne zu einem günstigen Zeitpunkt. Sehen wir nach: vorn!

Mit einem kurzen Rückblick: Möchte ich mir heutzutage Verreisen ohne Rollkoffer vorstellen? Möchte ich mein Gepäck wieder übers Gleis, durch den Flughafen schleppen? Manche Ideen scheinen irgendwann eben einfach reif zu sein. Sogar überfällig. Rückblickend überraschend spät, dennoch Ausdruck einer Veränderung, die nötig war. Zum Beispiel, weil mehr Menschen öfters und mehr verreisten. Und der „kofferschleppende Macho“ (so der Erfinder des Rollkoffers, Bernard Sadow) irgendwann out war.

Kulturell oder kommerziell? Egal – Hauptsache sichtbar!

Das Netzwerk Filmstadt Wiesbaden e.V. ist also ein Rollkoffer. Sein Erscheinen auf der (pardon) Bildfläche scheint längst überfällig.  Der Verein setzt sich – bislang, Zuwachs ist willkommen und erwünscht – zusammen aus Wiesbadener Filmschaffenden, Produktionsfirmen, FestivalmacherInnen, der Hochschule RheinMain, und Institutionen wie der hier ansässigen Filmbewertungsstelle oder dem Murnau Theater. Kurz: allen, die in Wiesbaden professionell mit Bewegtbild zu tun haben. Egal – und das ist neu – ob der Schwerpunkt nun kulturell oder kommerziell gewählt ist, will der Verein der Filmbranche in Wiesbaden ein Gesicht geben und zu mehr Sichtbarkeit verhelfen. Zum Beispiel, weil der Zeitpunkt gut ist, und wir Menschen immer mehr Bewegtbild konsumieren – um beim Rollkoffer-Beispiel zu bleiben.

Umfrage in der Branche belegte Bedarf

Natürlich ist das Netzwerk nicht aus dem Kulturbeutel gefallen. 2014 startete die frühere ZDF-Redakteurin Dr. Jutta Szostak im Auftrag des Kulturdezernats eine große Umfrage in Wiesbadens Film- und Medienbranche. Das Ergebnis, dokumentiert in einem 15-seitigen Dokument: Das Interesse an einer gemeinsamen Plattform war groß. In den vergangenen drei Jahren ebneten dann die Filmemacherin Birgit-Karin Weber, der Kameramann Rüdiger Kortz und Rüdiger Pichler,  Professor für Kommunikationsdesign an der Hochschule RheinMain und Gründungsvorstand der seit 2007 existierenden hessischen Film- und Medien Akademie (hFMA), dem neuen Netzwerk den Weg – als Geschäftsführender Vorstand und Teil einer Lenkungsgruppe, die Ziele und Aufgaben klären sollte. Enorm viel Arbeit, wie alle übereinstimmend berichten. Dennoch, es hat sich gelohnt. Der Verein startet mit etwa 40 Mitgliedern, darunter sieben Institutionen wie die Hochschule, das Exground Filmfestival (vertreten durch Andrea Wink) oder jüngst die Medienakademie Wiesbaden, ins Jahr 2018.

Ein Verein ohne Vereinsmeier

Auch wenn mehrere Gesprächspartner unabhängig voneinander versichern, „keine Vereinsmeier“ zu sein – die Vereinsgründung ist organisatorisch ein großer Schritt. Endlich gibt es eine Struktur, unter der die vielfältigen Gesichter der Branche gemeinsam auftreten oder auch Fördertöpfe für zukünftige Projekte anzapfen können. Beratend und unterstützend zur Seite stehen dem Branchen-Netzwerk dabei Uwe Backes vom Wirtschaftsdezernat und eben Uwe Stellberger vom Kulturamt der Stadt Wiesbaden. „Film ist ja nicht nur Kunst, sondern auch Wirtschaftsprodukt“, sagt Gründungsmitglied Birgit-Karin Weber. Abgesehen von den unzähligen Bewegtbild-Erzeugnissen, die in über 70 Produktions- und Postproduktionsfirmen in und um Wiesbaden hergestellt würden, strömten auch jährlich über 35.000 Kinofans auf die sieben, teils international renommierten Wiesbadener Filmfestivals (siehe: „Der große Check: Wiesbadener Filmfestivals“), und ließen sich über 3000 Übernachtungen im Jahr auf Aktivitäten der Filmbranche zurückführen. Beachtlich. Nimmt man noch die Vielzahl an Institutionen hinzu, die in Wiesbaden ansässig sind – darunter die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, das Archiv des Deutschen Filminstituts, die Spitzenorganisation der Deutschen Filmwirtschaft oder die Filmbewertungsstelle –  warum hat man sich nicht schon viel früher um mehr Austausch bemüht?

„Neben den unterschiedlichen Partikularinteressen, die so verschiedene Akteure nun mal haben, ist aus meiner Sicht natürlich die Konkurrenz unter Produzenten ein großes Thema gewesen am Anfang“, erzählt Arndt Neckermann, Inhaber und Geschäftsführer bei der Produktionsfirma / Agentur Greb & Neckermann. Niemand wolle sich in die Karten schauen lassen, was Stoffe, Kontakte oder angestrebte Förderungen angehe. Andere hindere vielleicht ihr Selbstverständnis als Kulturschaffende, sich in einem Netzwerk zu organisieren, welches Wiesbaden eben als seinen Wirtschaftsstandort begreift und hier Profil gewinnen will. Dennoch: „Eine gute Idee, einen guten Stoff zu haben – das reicht nicht mehr. In der Hinsicht können wir sicher von der Kreativwirtschaft in Wiesbaden was lernen. Gerade als Filmemacher, als Produktion oder eben Agentur musst du dich mit der wirtschaftlichen Seite auseinandersetzen, und das heiß als erstes: Netzwerken.“

Das Potenzial der Hochschulen – und der Partnerstädte

Neckermann, der auch als Dozent an der Hochschule RheinMain tätig ist, sieht vor allem Chancen für den Standort Wiesbaden in einem verstärkten Austausch der Branche mit der Hochschule, um die gut ausgebildeten Absolventen auch hier zu behalten. „Ideal wäre doch eine fließende Bewegung von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt. Hier sehe ich noch großes Potenzial in Wiesbaden.“ Ein erstes Projekt, das er auch im Rahmen des Vereins Filmstadt Wiesbaden voranbringen will, ist schon auf die Schiene gesetzt: für die Dauer der jeweils vorgesehenen Pflichtpraktika im Rahmen des Studiums will Neckermann einen Austausch mit der Partnerstadt San Sebastian organisieren. Der Bürgermeister des nordspanischen Filmfestival-Mekkas, das neben dem internationalen A-Listen Festival im September auch ein Surf-, ein Human Rights-, sowie ein Horror und Fantasy-Filmfestival beherbergt, sei bereits mit Oberbürgermeister Sven Gerich im Gespräch, nachdem Neckermann schon längere Zeit alles angebahnt hatte. Zusammen mit Prof. Rüdiger Pichler kümmere man sich um die Hochschul-Seite des Vorhabens, beispielsweise was Creditpoints und Zertifizierung der Praktika angehe.

Wachstumsziel: Mitgliederzahl jährlich verdoppeln

Pichler, der den Studiengang Kommunikationsdesign an der Hochschule Rhein-Main leitet, kann da nur zustimmen: „Unser Verein will versuchen, seine Mitgliederzahl in den kommenden drei Jahren jeweils zu verdoppeln – auch und gerade durch junge Menschen!“ Man spürt auch durchs Telefon, dass das die Zukunft Wiesbadens als Medienstandort den Professor elektrisiert. „Die Entwicklung ist so unübersichtlich, die Veränderung rasend schnell. Wir wissen heute noch gar nicht, in welchen Berufsfeldern unsere Absolventen landen werden!“ Umso wichtiger findet er die Zusammenarbeit mit der Branche vor Ort, denn es gehe auch darum, den digitalen Wandel nicht zu verschlafen, und die Zukunftsthemen im Bereich Bewegtbild zu erkennen und zu entwickeln.

Ein Forschungscampus Medienentwicklung Unter den Eichen? Warum nicht. Man könne sehr voneinander profitieren: die Stadt, die Hochschule und die Film- und Medienschaffenden.  Da im Filmstadt Wiesbaden Netzwerk e.V. alle Akteure der Branche aus den Bereichen Ausbildung, Produktion, Festivals und Institutionen organisiert seien, könne man als legitimer Vertreter der Branche auftreten, um künftig gemeinsame Interessen zu artikulieren, Entwicklungen anzustoßen. „Wir müssen zuerst ein Motivations-Klima schaffen, einen fruchtbaren Boden, auf dem etwas wachsen kann. Die Stadt und die Politik sind sehr interessiert. Wirtschafts- und Kulturdezernat sind beide an Bord – ein Fortschritt, der in der Vergangenheit nicht immer selbstverständlich war! Uns ist wichtig, an einer nachhaltigen Erfolgsstory aus und für Wiesbaden zu arbeiten.“

Wiesbaden als Medienstandort voranbringen

„Wenn der Verein seine Ziele konkretisiert, werden wir als Stadt das nach Möglichkeiten unterstützen“, so Werner Backes, Leiter der Wirtschaftsförderung der Stadt Wiesbaden. Auch er, der als Teenager einstmals als Platzanweiser im Kino jobbte, erkennt das Potenzial des Vereins, Wiesbaden als Medienstandort voran zu bringen. Als Branchenvertretung in der Öffentlichkeit könne dieser sich immer klarer positionieren als ein einzelnes Unternehmen. Konkret unterstütze das Wirtschaftsdezernat den Aufbruch des Netzwerks unter anderem mit Mitteln für den Webauftritt und die Logogestaltung. Backes verspricht, dem Verein auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Die Zeichen stehen also auf „Go“ für das Netzwerk. Was versprechen sich Neu-Mitglieder des Vereins von ihrer Mitgliedschaft? Wie wollen sie sich einbringen? Lawrence Richards, Wiesbadener Filmemacher und gerade erst beigetreten, umreißt es so: „Ich mache zum Beispiel gerade einen Film über meinen Vater, der gefeierter Opernsänger war. Ein Herzensprojekt, das ich über Crowdfunding finanziere. Wiesbaden ist einer der Hauptdrehorte, und ich zähle natürlich auch auf die Filmstadt Wiesbaden, den persönlichen Austausch, um Leute zu erreichen. Andersrum kann ich mir etwa vorstellen, den Verein in Sachen Social Media-Kampagnen zu unterstützen. Wir gehören hier ja tatsächlich zu den Jüngeren“, lacht der 37-Jährige, aber nicht böse. Darüber hinaus fände er es wichtig, mit Menschen persönlich ins Gespräch zu kommen, die er so in seinem Produktionsalltag nicht getroffen hätte. Die Filmbranche verändere sich rapide. Er sei einfach neugierig auf und offen für spannende Begegnungen.

Auch die Idee, eine Art Wiesbaden Schaufenster für lokale Produktionen im Rahmen eines der bestehenden Festivals zu eröffnen, fände er interessant. „Das ist eine Überlegung wert“, findet Andrea Wink. Die Organisatorin und Mitbegründerin des Exground-Filmfests führt aus, dass es immer spannend sei, sich für lokale und neue Formate zu öffnen – auch im Hinblick auf die nächste Generation von Kinobesuchern aus der Stadt. Alle packen also etwas rein in diesen Koffer, in ihre Branche, ihre Stadt: Arbeit, Leben, Zukunft. Oder einfach: Filmstadt Wiesbaden Netzwerk e.V. Jetzt mit Rollen.

https://www.facebook.com/FilmstadtWiesbaden/

Das Logo des Netzwerks, entwickelt von dem jungen Wiesbadener Designbüro Cüvee: