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Komplexer kreativ: 5 Jahre nach der ersten sensor-Titelgeschichte – Was machen die Protagonisten?

„Heimliche Kreativhauptstadt“ war im April 2012 die Quintessenz der allerersten sensor-Titelgeschichte über die Agenturszene in Wiesbaden. Fünf Jahre später haben wir die Protagonisten von damals wieder besucht. Und festgestellt: Sie sind komplexer kreativ. 

Von Julia Bröder. Fotos Nele Prinz.

Wer schon einmal eine Bahnfahrkarte auf dem Handy gekauft hat, hat dafür vermutlich eine App benutzt, die in Wiesbaden entstanden ist. Die hier ansässige Kreativagentur Scholz & Volkmer betreut die Deutsche Bahn schon seit Jahren. Ihre Aufgabe ist es, die digitalen Angebote so zu gestalten, dass sie für den Nutzer bequem zugänglich sind. „Die Kanäle, über die man heute mit einem Unternehmen in Berührung kommt, haben sich vervielfacht“, sagt Michael Volkmer. „Wir müssen uns also noch mehr damit auseinandersetzen, welche davon die Zielgruppen favorisieren und wie sie diese nutzen.“ User Experience Design – Ergebnisse dieser Herangehensweise können eine Snapchat-Kampagne sein, wie sie Scholz & Volkmer für Fanta umgesetzt hat. Oder ein kompletter Online-Shop wie das Wiesbadener Kiezkaufhaus, das die Agentur 2015 unter dem Motto „Lokal liefern lassen“ selbst an den Start brachte. Projekte, die direkt mit dem Leben in der Stadt verknüpft sind, haben bei Scholz & Volkmer einen hohen Stellenwert. Die Agentur ist bekannt für ihr Engagement in Sachen Nachhaltigkeit und Klimaschutz –  die Lichtinstallation „NOxmas. Der Stadtluftanzeiger“, seit Dezember am Hauptbahnhof zu sehen, wird ab Herbst Teil der großen Ausstellung am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe sein.

Nachhaltigkeit als Designthema

Generell spielt das Thema Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle für Wiesbadens Designer. Claudia Gorbauch und Simone Bachmann von Ponderosa Design arbeiten gerne – und immer mehr – für Naturkosmetikmarken oder Anbieter von Biolebensmitteln. Zuletzt hat das Team, das vor Kurzem von einem Hinterhaus seitlich der Wilhelm- in ein Ladengeschäft in der Nerostraße umgezogen ist, die Bio-Bäckerei Kaiser bei der Eröffnung ihrer Filiale in der Dotzheimer Straße unterstützt und neben der Außenbeschilderung auch die Innenräume mitgestaltet. Andere, wie die kraft&adel Werbemanufaktur, setzen auf mineralölfreie Farben und Recyclingmaterialien. „Ein Projekt wie die Stickstoffampel am Bahnhof hätte ich auch gerne mit unserer Agentur realisiert“, meint Geschäftsführer Christian Adelhütte anerkennend und spricht damit in einem für Wiesbaden üblichen anerkennenden Ton über die vermeintliche Konkurrenz. Einen Kampf um Aufträge scheint es nicht zu geben. Jeder hat seine Spezialgebiete. Kunden gibt es genug, was zum einen an der wirtschaftlich stabilen Region selbst, als auch an der guten Erreichbarkeit des Rhein-Main-Gebiets liegen dürfte.

„Heimliche Kreativhauptstadt“ titelten wir in unserer ersten sensor-Ausgabe vor fünf Jahren und stellten sechs Firmen vor, die in der hessischen Hauptstadt Kommunikation für regionale, nationale und internationale Unternehmen entwickeln. Als Auswahl selbstverständlich, denn schon damals befanden sich mehr als 600 Design- und Werbeagenturen in Wiesbaden. Neuere Zahlen gibt es nicht, Gordon Bonnet von der IHK beobachtet jedoch eine „langsame, aber in der Tendenz positive Entwicklung“, was die Gründerlust innerhalb der Wiesbadener Kreativwirtschaft angeht: „Gerade im Bereich Kommunikationsdesign.“

Unsere Protagonisten von damals arbeiten jedenfalls weiter an spannenden Projekten – teils in neuen Räumen, veränderten personellen Konstellationen und mit neuen Schwerpunkten. „Wir haben uns quasi vom Hinterhofbüro hochgearbeitet“, lacht Adelhütte, der zusammen mit seinem Partner Steffen Kraft vom Hochparterre in die „Beletage“ im selben Haus in der Taunusstraße gezogen ist und sein Team auf sechs feste Mitarbeiter aufgestockt hat. In dieser Konstellation erarbeitete kraft&adel zum Beispiel eine Recruiting-Kampagne für die Polizei Hessen oder einen Social-Media-Auftritt für Fürst von Metternich. Insgesamt sei das Thema Social Media wichtiger geworden, berichtet Adelhütte und gibt zu, dass es nicht einfach ist, entsprechende Experten zu finden – Wiesbaden sei für erfahrenere Professionals oft nicht der Standort erster Wahl.

Nur ein lebenswertes Wiesbaden lockt kreativen Nachwuchs

Auch die Suche nach kreativem Nachwuchs ist kein Selbstläufer. Zwar kann man an der Hochschule Rhein Main Kommunikationsdesign und Media Management studieren, demnächst bietet Fresenius zudem Studiengänge in Design und Medien an. Mit der Umstellung auf Bachelor sei die Qualität der Ausbildung insgesamt allerdings gesunken, meint Michael Volkmer. Zudem ziehe es viele junge Kreative nach wie vor nach Berlin oder Hamburg. Hier ließe sich gegensteuern, wenn Wiesbaden nicht nur als Ausbildungsstandort, sondern auch als lebenswerte Stadt wahrgenommen werde.

Steffen Kraft liebt die Lage seiner Agentur: „Der nahe Park und der Wald sind perfekt, um den Kopf frei zu bekommen.“ Aber auch in der Stadt selbst tue sich viel. „Der Heimathafen belebt die Kreativszene sehr, die Pläne, das Alte Gericht öffentlich zu nutzen, sind toll!“ Das sieht Sabrina Haas ähnlich. „Wiesbaden ist viel bunter und lauter als viele denken“, findet die Inhaberin von Fazit : ehrliches Image in der Röderstraße. Sie führt die Agentur allein, während Gründer Peter Weingärtner sich dem „Stiftungsführer“ widmet. „Ich wollte meine Kommunikationsexpertise immer nutzen, um gesellschaftliche Probleme zu lösen“, so Weingärtner. Mit seiner neuen Firma möchte er gemeinnützigen Stiftungen dabei helfen, sich zu vernetzen, Aufmerksamkeit zu bekommen und Spenden zu generieren. Haas konzentriert sich indes auf kleine bis mittelständische Unternehmen aus der Region sowie auf soziale und kirchliche Träger und engagiert sich gerne bei sozialen Projekten für Bewohner und Projekte der Stadt Wiesbaden. Außerdem gibt sie das Familienmagazin „Flummi“ heraus. Passend, denn ihr Team besteht überwiegend aus Müttern. „Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist mir wichtig und wir beweisen, dass es bestens funktioniert“, so Haas.

Familie ist auch ein Grund für die Veränderungen bei Royalkomm. Eric Portugall zog sich aus der Internetagentur zurück, um mehr Zeit für seinen Sohn zu haben. Robert Glück und Björn Göbel veränderten sich räumlich wie auch personell: Sie zogen aus dem eher Wiesbaden-typischen Altbau in der Mauritiusstraße in ein Hinterhof-Fabrikloft inklusive Co-Working-Platz in der Moritzstraße und stutzen ihr Team von acht auf vier Mitarbeiter. Dass sich das gelohnt hat, zeigen Aufträge von Unternehmen wie der Oettinger Brauerei oder der Event-Gastronomie „Das Original Gruseldinner“. Der Schwerpunkt habe sich dabei von der technischen Umsetzung auf Beratung und Konzeption verlagert, berichtet Göbel.

Spezialisten werden immer gefragter

Generell ist der Bedarf an Beratung und Strategien von Kommunikationsexperten gestiegen. Design und Realisierung sind zwar nach wie vor wichtig. Die Kunden wollen – und müssen – aber auch verstehen, was ihrer Marke innerhalb der immer komplexer werdenden Kommunikationslandschaft guttut. „Die digitale Kommunikation beschränkt sich nicht mehr nur auf Websites und Apps“, so Christoph Kremers von Die Firma in der Schwalbacher Straße. „Es kommen immer mehr unsichtbare Interfaces wie Alexa und Chatbots zum Einsatz, die in die User Experience integriert werden wollen.“ Die logische Konsequenz für Die Firma: vermehrt mit spezialisierten Partnern zusammen zu arbeiten.

Wiesbadens Kreativbranche lebt, so viel steht fest. Bleibt die Frage, was öffentlich getan wird, um ihren Akteuren einen noch besseren Nährboden zu bieten. Die IHK bemüht sich im 2014 gegründeten Kreativwirtschaftsausschuss um überregionale Sichtbarkeit, Austausch zwischen Studenten und Unternehmen und mehr Räume für Kreative. Zudem sitzen im Arbeitskreis Designwirtschaft Agenturen, IHK, Wirtschaftsförderung und Hochschule Rhein Main zusammen, um den Standort zu stärken. An der Ergiebigkeit gibt es allerdings Zweifel. Auch an der Veranstaltungsreihe „Access All Areas“, die 2006 als Tag der offenen Tür der Designbranche startete, gibt es Kritik. Seit diese über das ganze Jahr verteilt stattfinde, habe sie für Agenturen und Besucher an Wert verloren. Stattdessen setzen Wiesbadens Kreative lieber auf den direkten, persönlichen Austausch mit den Kollegen – da ist es dann sogar von Vorteil, dass die Szene hier kleiner ist als in Berlin oder Hamburg.

Kreativtreff see conference

see #12, 22.04., Schlachthof: Mit der see conference – ausführliche Ankündigung hier – organsiert Scholz & Volkmer eine bundesweit beachtete Konferenz zur Visualisierung von Information mit inspirierenden Sprechern. sensor ist Medienpartner. Die Veranstaltung ist ausverkauft. Es gibt eine Warteliste: www.see-conference.org – und für alle, die nicht dabei sein können, einen Livestream.