Direkt zum Inhalt wechseln
|

Gelebte Utopie: Der Kulturpark ist zu einem einzigartigen Treffpunkt herangewachsen – Bald noch mehr Freiraum

Von Tamara Winter. Fotos Samira Schulz.

Auf einer temporären Bühne rockt die Grungerock-Band Skuff. „Eine Mischung aus Nirvana und Queens of the Stone Age“, meint einer im Publikum. Direkt hinter dem Schlagzeug spielt eine Gruppe unbeeindruckt von den harten Sounds Beachvolleyball. Geht der Blick nach rechts, lässt sich beobachten, wie sich Jungs und auch Mädels an den Stangen des neuen Calisthenics-Parks verausgaben. Im Rücken wird derweil das „Currywurst Bankett“ vorbereitet, bei dem der beliebte Snack in Kürze an einer Tafel mit weißen Tischdecken serviert werden wird. Das FKK-Gelände nutzt gerade niemand, dafür chillt eine Gruppe Geflüchteter neben den Containern, die auch ein Bienenhotel beherbergen. Immer mitten drin im Geschehen: „Hans“, gute Seele mit Legendenstatus, der Pfandflaschen sammelt und den besten Draht hat zu den vielen völlig unterschiedlichen Menschen, die hier zusammenkommen. Was erleben wir hier? Einen total typischen Abend im Kulturpark. Ein total entspanntes, und gleichzeitig äußerst spannendes, Neben- und Miteinander, das einzigartig sein dürfte in Wiesbaden. Eine gelebte Utopie?

Konzerte, DJs, Graffiti, Straßentheater, Sport … Das Angebot an Kultur- und Freizeitgestaltung auf dem Gelände an der Murnaustraße ist groß und lockt Menschen aller Generationen an. Für Kulturdezernent Axel Imholz ist es gar „als Gesamtensemble ein kultureller Ort, der deutschlandweit seinesgleichen sucht.“ Es wird im Kern von fünf Akteursgruppen auf dem großflächigen Grundstück im Salzbachtal gestaltet. Neben dem Schlachthof, der 2015 gemeinsam mit dem angeschlossenem Lokal 60/40 den restaurierten Wasserturm bezogen hat, beteiligen sich auch die Kreativfabrik und das Murnau Filmtheater an der eindrucksvollen Nutzungsvielfalt des Parks. Zusammen mit den Betreibern des beim städtischen Amt für soziale Arbeit angesiedelten Projekts Kultur im Park (KiP) werden die Aktivitäten koordiniert und abgestimmt. Die Besonderheit liegt in der möglichst freien Nutzung des Parks, an der sich jeder beteiligen kann. Aber nicht muss: Man kann hier auch einfach jenseits der Angebote tun, wonach einem ist. Oder auch einfach gar nichts tun.

KiP regt vieles an – und lässt alles zu

Das Projekt KiP wurde im April 2012 ins Leben gerufen. Koordiniert wird es unter der Leitung von Dietmar Krah vom Amt für Soziale Arbeit. Neben ihm besteht das Projekt aus zwei weiteren festen Mitarbeitern, Peter Beck und Bartholomäus Wischnewski. Gemeinsam kümmern sie sich um alles Organisatorische und sind von April bis Oktober fast täglich vor Ort – zu erkennen an der bei ihrer Anwesenheit gehissten Flagge. Ihre Aufgabe ist es, die vielfältige und friedliche Nutzung des Kulturparks zu fördern. Zu diesem Zweck initiieren sie verschiedenste Veranstaltungen, Aktionen, Workshops und Musikevents. Immer freitags gibt es ab 18 Uhr ein Theater- oder Konzertevent, und jeden Samstag legen wechselnde DJs im Park auf. Selbstverständlich ohne Eintrittspreise oder Absperrungen des Geländes. Die Musikveranstaltungen werden technisch von der Kreativfabrik unterstützt. Außerdem regen Krah und sein Team zur Selbstorganisation der Nutzerinnen und Nutzer an. So können auch Einzelpersonen und Gruppen das kulturelle Potenzial des Parks voll auszuschöpfen.

Gruppierungen wie der Wiesbadener Jongliertreff haben hier einen geeigneten Ort für ihre wöchentlichen Treffen gefunden. Fast jeden Montag in den sommerlichen Abendstunden wird Diabolo gespielt oder Partnerakrobatik betrieben. Eine derartige Nutzung ist unkompliziert bedarf keinerlei Absprache mit den Anliegern. Bartholomäus Wischnewski beschreibt, was sein Team motiviert: „Wir finden die Tage am schönsten, wo verschiede Veranstaltungen auf dem Gelände parallel laufen. Wenn am selben Tag zum Beispiel ein Fahrradkorso im Kulturpark endet, der mit Livemusik empfangen wird und wenige Stunden vorher ein Streetfoodfestival beginnt, gibt es viel zu erleben und es treffen lauter nette Menschen aufeinander.“ Das soll natürlich so weitergehen: „Wir sehen auch in Zukunft großes Potenzial für diese bunte Vielfalt. Sie gehört hierher. Das macht den Platz eben so spannend. So viele verschiedene Menschen betreiben hier gemeinsam Kultur. Weit und breit gibt es eigentlich nichts Vergleichbares in der Region“.

Gemeinsame Programmgestaltung

Die Besucher des Kulturparks wissen das große Engagement der verschiedenen Akteure zu schätzen. Aber wer genau welchen Beitrag zu den Aktivitäten vor Ort leistet, ist für die Gäste eher nebensächlich. Johanna Kuby ist 32 Jahre alt und arbeitet als Fotoassistentin in Frankfurt. Sie verbringt regelmäßig ihre Freizeit vor Ort und stellt fest, wie die Kooperation auf das Publikum wirkt: „Ich sehe, dass um den Schlachthof herum der Austausch wächst. Vor dem letzten Punkkonzert von Descendents in der großen Halle, gab es im Vorprogramm einen thematisch passenden Film zur Band im Murnau Filmtheater. Da kommt man gleich richtig in Stimmung für seinen Lieblingsact.“ Sie erinnert sich: „Der Schlachthof hat sich als einsamer Kämpfer diesen kulturellen Freiraum erarbeitet, und die Kreativfabrik sowie das Murnau Filmtheater und KiP haben auch ihren Beitrag geleistet. Nach und nach wuchs in den letzten Jahren die Qualität des gemeinsamen Programms. Es gibt viel Platz und mittlerweile arbeiten dort auch alle gemeinsam an der spannenden und lebhaften Kultur“.

Was viele auch nicht wissen ist, dass die Kreativfabrik bereits 2002 aus der Initiative für einen Kulturpark entstanden ist. Damals gab es vor Ort noch keine Grünflächen. Einige kreative Köpfe schlossen sich zusammen, um das großflächige Areal zu beleben. Vom 1. bis 3. September wird die Kreativfabrik ihr Jubiläum gemeinsam mit den anderen Anliegern im Kulturpark feiern.

Aktuelle Baumaßnahmen

Bis dahin wird der Park aber noch einigen Veränderungen unterzogen, die bisherige Fläche soll sich in den nächsten Wochen und Monaten verdoppeln. Die Calisthenics- Anlage im vorderen Bereich wurde bereits Anfang Juni in einem feierlichen Wettkampf eröffnet und wird bestens angenommen. Mit Reckstangen und Barren bietet die Anlage vielfältige Trainingsmöglichkeiten für jedermann und jederzeit. Sie ist auf Initiative der lokalen Street Workout- und Calisthenics-Szene entstanden und wurde bei der Umsetzung vom KiP-Team unterstützt. Auch neue Skate-Elemente sind bereits umgesetzt worden. Und schon in wenigen Wochen sollen der Bereich der Liegewiese im Südteil sowie Graffitiwände nach Vorstellung lokaler Graffitikünstler fertig sein. Endlich erhält das Gelände dann auch die dringend benötigten öffentlichen Toiletten. Sie waren bereits zu Beginn der Planung angedacht, wurden aber im Zuge der Durchführung wiederholt von Seiten der Stadt zurückgestellt. Die restlichen Baumaßnahmen bestehen überwiegend aus Funktionsflächen wie Anlieferwege für den Schlachthof. Dazu gehören zudem notwendige Parkplätze, die der Schlachthof nachweisen muss, um ein Kulturzentrum dieser Größe zu betreiben.

Action und Erholung

Die Planierraupen rollen bereits wieder, um den Bereich hinter der großen Halle des Kulturzentrums nutzbar zu machen. Die neuen für Umwelt und Kultur verantwortlichen Dezernenten Andreas Kowol (Die Grünen) und Axel Imholz (SPD) baten hier kurz nach ihren Amtsübernahmen zum Ortstermin und treiben die Weiterentwicklung dieses zuletzt weitgehend brachliegenden Teils bereits seit einigen Wochen voran. Hier wird an einer tollen Zukunft gearbeitet – und dunkler Vergangenheit gedacht: In diesem Parkbereich befindet sich die historische „Schlachthoframpe“, von der aus einst die Nazis Wiesbadener Juden nach Theresienstadt deportieren ließen. Seit 2010 dient sie als Mahnmal und Gedenkort.

Nachdem die umliegende Fläche modelliert und begrünt wurde, steht Interessierten nun eine Multifunktionsfläche zum Skaten und für Streetball zur Verfügung. Sie kann aber auch flexibel für andere Zwecke genutzt werden. Neben der neuen Liegewiese werden den Besuchern bald Grillplätze zur freien Nutzung bereitstehen. Der Wiesbadener Sportclub „La Boule Joyeuse“ erhält 16 neue Bahnen, die er gut gebrauchen kann. Die Mitglieder des Vereins sind in der Bundes- und Hessenliga vertreten. Sie engagieren sich schon seit einiger Zeit auf dem Areal und freuen sich jederzeit über neue Gesichter. Der Boulebereich ist sowohl für Anfänger als auch für erstklassige Turniere geeignet. Wer kein Interesse hat, die Kugeln rollen zu lassen, kann nebenan auf der Wiese eine ruhige Kugel schieben und chillen.

Flexible Funktionsräume

Mit der Fertigstellung des Bauabschnitts im Südteil ist zumindest der Punkt erreicht, an dem von Seiten des Grünflächenamts keine weitere Finanzierung für Bebauung vorgesehen ist. Dietmar Krah erklärt, worauf es bei den vielen Neuerungen ankommt: „Alle Teile des Parks sind so angelegt, dass sie flexibel nutzbar bleiben. Es gibt kaum Räume, die praktisch nur für eine Funktion verwendbar sind. Fast alle fest installierten Elemente wurden bei der Planung soweit an den Rand des Geländes gesetzt, dass genügend Raum bleibt für Festivals, Open-Air-Konzerte und vieles mehr“. So entstehen keine Hindernisse für eine freie Nutzung. Von großer Bedeutung ist natürlich die Sicherung der Fluchtwege, auch bei großen Events. Diese sollen in Zukunft noch häufiger werden. „Mit den neuen Funktionsräumen entstehen auch Räume, wo man ohne Pfützen und matschige Füße Flohmärkte und alles Mögliche machen kann. Eine Boulebahn ist natürlich nicht nur eine Boulebahn, sondern kann genauso gut als eine Fläche für Flohmärkte oder Foodfestivals gebraucht werden.“ betont Dietmar die Flexibilität des Geländes.

Regelmäßige Runden

Das KiP-Team schickt wöchentlich einen Newsletter an die Kreativfabrik und die anderen Anlieger. Sie informieren über aktuelle Geschehnisse und vermitteln zwischen Vertretern des Parks und Initiativen, die sich mit kreativen Ideen und konkreten Visionen einbringen möchten. Vor Ort tauscht man sich ständig aus. Bei den jeweiligen Plenumstreffen zu Jahresbeginn werden die verschiedenen Programme aufeinander abgestimmt. Die sogenannte Sicherheitsrunde mit der Polizei und dem Ordnungsamt ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Kooperation, um die vielfältige Nutzung und das bunte Treiben im Park optimal zu schützen. Janne Muth, 29 Jahre, wurde kürzlich zum 1. Vorsitzenden der Kreativfabrik gewählt. Er beschreibt ein Phänomen, dass man gut in Kreisen Kulturschaffender kennt: „Man kann im eigenen Laden, im eigenen Projekt, nicht mehr als Gast kommen. Die Arbeit holt einen immer wieder ein. So geht es mir aber tatsächlich überhaupt nicht!“. Janne ist zudem schon länger als DJ tätig und hat die angesagte Veranstaltungsreihe „Circus Lunae“ mit House- und Technomusik ins Leben gerufen.

Platz für alle und alles

„Ich bin auf fast jeder Veranstaltung der Krea. So nennen wir die Kreativfabrik intern. Die Veranstaltungen vom befreundeten Schlachthof, die unglaublich kreativen Projekte von Kultur im Park und das Ausnahme-Filmprogramm der Murnaustiftung sind so vielfältig, dass ich oft nur schwer entscheiden kann, wo ich hingehe“ gesteht er lächelnd. Doch auch Erholungsuchende sind im Kulturpark genau gut aufgehoben, meint Janne: „Bei schönem Wetter einfach draußen auf der Wiese zu sitzen oder vielleicht im 60/40 mal wegen des großen Andrangs auf sein Essen zu warten, selbst das macht Spaß!“. Er stellt fest: „Ich muss eigentlich aufpassen, dass ich nicht zu viel Zeit auf dem Gelände verbringe und den Rest der Welt vergesse“. Wie Dietmar Krah bereits im sensor-2×5-Interview betonte, ist im Kulturpark genug Platz für alle und alles. Wer Interesse hat Ideen weiterzugeben oder eigene Visionen auf dem Gelände zu verwirklichen, hat jederzeit die Möglichkeit sich vor Ort mit den Mitarbeitern auszutauschen oder per Email Kontakt aufzunehmen. Man freut sich über alle Engagierten, die sich an der Gestaltung und Nutzung des Parks beteiligen!

www.kulturpark-wiesbaden.de