Direkt zum Inhalt wechseln
|

„Ich mag die Reibung“: Belgischer Regisseur Thomas Bellinck bespielt das Alte Gericht – Wiesbaden Biennale in den Startlöchern

_MG_4958

Von Hendrik Jung. Foto Kai Pelka.

Im Alten Gericht – dem eigentlich für die Öffentlichkeit geschlossenen und nicht zugänglichen Ort, über dessen künftige Nutzung in der Stadt unvermindert intensiv diskutiert wird – passieren derzeit geheimnisvolle Dinge. Gesammelte oder eigens hergestellte Objekte werden in dem weitläufigen Gebäude auf verschiedene Etagen verteilt, Räume werden mit Lichtinstallationen neu in Szene gesetzt. Am Ende sollen die Menschen, die ausnahmsweise doch hinein dürfen, nicht mehr wissen, was da jetzt neu geschaffen worden ist und was schon immer den besonderen Charme des Hauses ausgemacht hat. „Ich mag die Reibung, die dort herrscht. Zwischen der Architektur vom Ende des 19. Jahrhunderts und den Neonröhren, die sich darin befinden“, erklärt der belgische Regisseur Thomas Bellinck, was ihn hier fasziniert.

Geisterbahn der europäischen Zukunft

Seit gut vier Jahren widmet er seiner Aufgabe als Museumsdirektor viel Zeit – nicht nur in Wiesbaden. In seinem „Domo de Europa Historio en Ekzilo“, übersetzt das „Haus der europäischen Geschichte im Exil“, sollen die Besucherinnen und Besucher aus einer fiktiven Zukunft zurück auf die heutige Europäische Union blicken. Je nachdem, ob dieses Museum temporär in der Alten Post in Wien, im ehemaligen Arbeitsministerium in Athen oder eben nun im Alten Amts- und Landgericht von Wiesbaden untergebracht ist, verändert sich sein Erscheinungsbild. Versprochen wird im goldenen Programmheft „eine Geisterbahn der europäischen Zukunft, die keinen unberührt lässt.“ Thomas Bellinck und seine Crew müssen auch inhaltlich flexibel sein. „Die Dinge ändern sich sehr schnell. Es ist gut möglich, dass wir die Ausstellung bis zur Biennale noch aktualisieren müssen“, erläutert der 33-jährige.

Sein Museum wird die längste (25. August bis 18. September, täglich 11 bis 18 Uhr) und aufwändigste von insgesamt zehn Stationen im „Asyl des Müden Europäers“ sein. In der St. Augustines Church wird jeden Tag eine ziemlich echte Beerdigung stattfinden. Zu Grabe getragen wird hier jedoch kein Leichnam, sondern Ideelles, wie etwa der Wohlfahrtsstaat, die multikulturelle Gesellschaft oder das Enfant terrible. Eine Bibliothek wird im Lager des Stadtarchivs eingerichtet. Zwar wird es dort keine Bücher geben, dafür werden Informationen von Mensch zu Mensch weiter gegeben. Und am Faulbrunnenplatz schafft der Schweizer Thomas Hirschhorn ein verstörendes und radikales 24-Stunden-Sperrmüll-Denkmal.

Ermutigen zum selbst Einbringen

Möglichkeiten für die Wiesbadener, sich persönlich einzubringen, eröffnet das „Asyl des Müden Europäers“ viele. Täglich um 18 Uhr werden Chöre gebraucht, um die Trauerfeier musikalisch zu gestalten. Für die Beerdigungen werden außerdem noch Angehörige für zu Betrauernde wie den Wohlfahrtsstaat gesucht. Im temporären Grandhotel im Foyer des Staatstheaters soll jeden Abend ein Streichquartett aufspielen. Beim Trainingscamp der „Army of Love“ kann am 27. August in der Wartburg geübt werden, Liebe zu geben oder zu empfangen, selbst wenn man die Sendenden oder Empfangenden gar nicht liebt.

Mit der neuen Herangehensweise soll bei der diesjährigen Biennale ein reger Austausch entstehen, der über übliche Diskussionen hinaus geht. „Als Manfred Beilharz mit den`Neuen Stücken aus Europa´ vor 25 Jahren in Bonn angefangen hat, war der internationale Austausch unter den Künstlern noch etwas ganz Besonderes. Wir gehen jetzt einen Schritt weiter. Wir möchten, dass die internationalen Künstler sich mit der Stadtgesellschaft auseinander setzen, indem sie hier vor Ort arbeiten“, erläutert Maria Magdalena Ludewig, die die neue Biennale gemeinsam mit Martin Hammer kuratiert. Immer wieder werden Menschen aus der Region eingebunden, auch als Darstellende in der Neuinszenierung der Performance „Gala“ des französischen Choreografen Jérome Bel.

Wer an der Tribüne für die Agora mitbaut, der unterstützt den freien Austausch zwischen interessierten Gästen. Frei nach dem altgriechischen Vorbild wird hier während des Festivals am Warmen Damm eine Plattform entstehen, um Debatten über die Themen zu führen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Vielleicht wird der eine oder die andere müde Europäer auf diese Weise aufgerüttelt. „Wiesbaden als Kurstadt bietet jetzt dem müden Europäer ein Domizil. Denn Asyl ist ja eigentlich der Zufluchtsort. Der Ort, wo man sich neu erfindet“, betont Maria Magdalena Ludewig. Ein Umstand, der bei den aktuellen politischen Debatten gerne in den Hintergrund rückt. Die Biennale will nun Alteingesessenen, Neubürgern und Gästen gleichermaßen die Gelegenheit geben, neue Erfahrungen zu machen.

Einige Spielorte verfügen nur über einen sehr begrenzten Raum. Es empfiehlt sich, frühzeitig zu buchen. Tickets sind dann bei den Vorverkaufsstellen, ab sofort auch am Festivalzentrum auf dem Warmen Damm, oder online erhältlich. www.biennale-wiesbaden.de