Von Maximilian Wegener (Text und Fotos).
Der Abend beginnt mit einem Wodka – so wie jedes goEast Festival auch. „Wodka trinken ist in Russland alltäglich. Wir spielen beim Festival gerne mit diesem Klischee“, sagt Heleen Gerritsen. Die studierte Slawistin aus Eindhoven ist seit 2017 Leiterin des Festivals für mittel- und osteuropäischen Film, das seit 2001 jährlich in Wiesbaden stattfindet – in diesem Jahr vom 10. bis 17. April, mit sensor als Medienpartner. Im Vorfeld hatte sich Gerritsen zur dritten Ausgabe des sensor-Tresentalks in der EXIL BAR des Walhalla im EXIL in der Nerostraße eingefunden. Ein Rückblick.
Es ist kurz nach neun Uhr abends, draußen ist es dunkel und kalt, drinnen angenehm schummerig und warm. Das Interview an der Bar spielt sich gefühlt mitten zwischen den Gästen ab. Wohnzimmeratmosphäre, als der Moderator des Abends, sensor-Chefredakteuer, das Publikum und den Talkgast begrüßt.
Eine Plattform für osteuropäische Kultur
Das goEast Festival ist nicht nur ein Filmfest. Es ist ein Forum, eine Plattform für die Kultur der Länder des postsowjetischen ehemaligen Ostblocks. Vor allem, so Gerritsen, gehe es auch darum, Klischees aufzubrechen und die Diversität dieser Länder zu zeigen: „Da gibt es wirklich große kulturelle und auch andere Unterschiede. Das große einende Element war und ist der Umbruch von der Plan- auf die Marktwirtschaft.“ Aus diesem Grund ist eines der bestimmenden Themen dieses Jahr „Die wilden 90er“. Der Umbruch nach dem Mauerfall wird dabei in den Fokus gerückt.
Neben Filmen gibt es auch Vorträge, Gesprächsrunden, Partys und andere Veranstaltungen. Beispielsweise das Paneuropäische Picknick auf dem Schlossplatz oder auch eine Lesung mit Wodkaprobe. Diese wird nun am 15. April nicht wie geplant in der Nerobergbahn stattfinden , sondern in der Stadtbahn Thermine und im EXIL. Der unter anderem aus „Babylon Berlin“ bekannte Schauspieler Ivan Shvedoff wird aus dem Roman „Die Reise nach Petuschki“ des Kultautors Wenedikt Jerofejew lesen. Menschen können und sollen bei goEast ins Gespräch kommen, sich austauschen, diskutieren.
Kein Festival der Putinversteher – wohl aber der kontroversen Diskussionen
Eine quasi unvermeidliche Frage, gerade wenn es um russische Filme geht, istbeim Tresentalk die nach politischer Einflussnahme, Staatspropaganda und Zensur. Das weiß auch Heleen Gerritsen. Natürlich würden viele Filme staatlich gefördert, der Verdacht der Einflussnahme liege da nah. Finanzielle Abhängigkeit vom Staat bedeute aber noch lange nicht automatisch staatstreue Inhalte oder Konformität, riet sie zur Differenzierung.
„Es gibt vor allem eine Menge Filme mit subversiven Botschaften und Metaphern und Parabeln für reale gesellschaftliche Probleme“, erzählt Gerritsen. Besonders fiktionale Genres wie Horror oder Science Fiction böten sich dazu an. Man wolle auch gar nicht als Putinversteher dastehen: „Bei jedem regierungskritischen Film gibt es Kritik und Konflikte im Publikum, das wissen wir. Aber konstruktiver Streit ist gut. Wir laden deshalb gerne auch kontroverse Autoren ein und zeigen Werke, die Anstoß erregen können.“
109 Filme aus über 2000
Eines steht fest: Die goEast-Auswahlkommission hat immer mehr als genug zu tun. „Wir haben dieses Jahr 109 Filme aus über 2000 Bewerbern ausgesucht. Längst nicht alles davon war bei der Sichtung unterhaltsam“, sagt Gerritsen. Es habe aber, wie jedes Jahr, auch echte Lichtblicke gegeben, etwa einen Animationsfilm über Kafkas Verwandlung von der Hochschule Kassel, der bei diesem Festival als Vorfilm bei den Filmvorführungen laufen wird.
Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals ist „God exists, her name is Petrunya“ – ein Film über eine junge Frau in Mazedonien, die sich trotzig gegen patriarchale Strukturen auflehnt. Als besonderen Tipp empfiehlt Gerritsen „Acid“, die Geschichte eines jungen Paars in Moskau im Spanungsfeld zwischen Drogen, Sex, Parties und der Auflehnung gegen die Eltern. Ein weiter Geheimtipp: Die ukrainische Rapperin Alyona Alyona. Die gelernte Kindergärtnerin ist Shooting Star der ukrainischen Hip-Hop-Szene und tritt am 12. April im Schlachthof auf.
Wiesbaden – eine Kulturstadt?
Wie sieht man Wiesbaden aus der Perspektive der Leiterin eines überregional bedeutenden großen Filmfestivals? Gerritsen schmunzelt angesichts der Frage. „Wenn man den sensor liest, hat man immer das Gefühl, hier in einer Großstadt zu sein, in der kulturell richtig was los ist.“ Allein das Staatstheater mache eine Menge aus, aber auch die vielen kleinen Kulturbetriebe und Bühnen. Anders als in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie einige Zeit gelebt und gearbeitet hat, sei in Hessen Geld und auch Interesse für Kultur spürbar. „Hier gibt es ein Angebot – man nehme alleine die Biennale – und das finde ich sehr gut!“
Frauen tragen die Hauptlast der Kulturszene
Die Frauen sind in Wiesbaden dafür gut, die vielen Festivals zu leiten, mit denen sich die Stadt so gerne schmückt. Viel Arbeit und Entbehrungen, geringe Bezahlung, oder gerne gleich als Ehrenamt. So schrieb Dirk Fellinghauer in seinem Editorial der sensor-März-Ausgabe und möchte gerne wissen, wie Heleen Gerritsen das, als eindeutig Betroffene, sieht. „Knapp 30 Prozent der Führungskräfte im Kulturbetrieb sind weiblich – ich rede jetzt nicht von den hohen Tieren.“ Gerade im Mittelsegment gebe es sehr viele Frauen und diese Jobs seien sehr anstrengend und nicht gut bezahlt. „Da ändert sich allerdings aktuell einiges“, räumt Gerritsen ein. „Aber das wird wohl noch eine gute Generation lang brauchen, bis es sich wirklich auswirkt.“
Das goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films findet, präsentiert von sensor, vom 10. bis 16. April statt – im Festivalkino Caligari, im Festivalzentrum in der Casino-Gesellschaft und an diversen anderen Orten. Das volle Programm und alle Infos hier.
Den Podcast zum Talk mit dem kompletten Tresengespräch gibt es HIER.
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