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Editorial Juli/August-sensor: Wenn der Wiesbadener IHK-Präsident zum Sozialarbeiter wird …

Ein gutes Gefühl, mal wieder am Tresen zu sitzen – wenn auch „nur“ zur Moderation von „Der visionäre Frühschoppen“ in der EXIL Bar. Nachzuschauen in voller Länger unter https://www.youtube.com/watch?v=nyEsggW1mEo                            Foto: Kai Pelka

Wenn der Wiesbadener IHK-Präsident zum Sozialarbeiter wird,

liebe sensor-Leser*innen, dann wissen wir: Jetzt ist irgendwas ganz anders. Natürlich ist Dr. Christian Gastl jetzt nicht wirklich Sozialarbeiter. Er komme sich aber in diesen Zeiten manchmal vor wie einer, erzählte er, als er jüngst bei einem Pressegespräch über den „Corona-Schock“ berichtete, unter dem auch die Wiesbadener Wirtschaft stehe. Bei den Gesprächen, die er mit IHK-Mitgliedern, mit Geschäftsleuten und Gewerbetreibenden, führe, da höre er Probleme und Sorgen, angesichts derer er … – genau – sich manchmal wie ein Sozialarbeiter fühle.

Nun ist in Wirklichkeit nicht „irgendwas“ ganz anders. So gut wie alles ist anders seit ein paar Monaten. Seit es Corona „gibt“, seit die Pandemie unser Leben bestimmt und – je nach persönlicher Situation – beherrscht, beeinträchtigt, erschwert, bedroht oder auch – ja, diese Effekte hat die Pandemie ebenfalls – bereichert, zurechtrückt, neu austariert.

Ich laufe durch eine Stadt, die mir nach dem Ende des „Lockdowns“ (der bei uns im Vergleich zu anderen Ländern wohl eher ein Lockdownchen war) voller vorkommt denn je. Restaurants, Bars, Cafés, Pop-Up-Locations sind bis auf den letzten Platz besetzt mit offensichtlich bestens gelaunten Menschen, die essen, trinken, reden, lachen. Und die sich im Überschwang auch schnell wieder näher kommen als es wohl ratsam wäre.

Von einer „Sehnsucht nach Rausch“ sprach eine kluge Freundin neulich, als wir darüber sprachen. Und ich freue mich so, dies alles (von den nachlassenden Abständen mal abgesehen) zu sehen, freue mich für die besonders gebeutelten Gastronomen, dass sie wieder Gäste bewirten dürfen, freue mich für die Gäste, die sich wieder bewirten lassen dürfen, freue mich, wieder das Leben zu spüren.

Und ich verdränge am liebsten die Gedanken, ob das denn wohl auch alles so gut gehen wird, ob all das, was ich sehe und spüre und aufsauge und was einfach nur allzu menschlich ist, sich nicht zu einer Superspreaderei entwickeln wird, die uns früher oder später all das wieder nehmen wird, was wir jetzt wieder so genießen. Von einer ungebremsten Dynamik der Pandemie sprach die WHO am Drucktag dieser Ausgabe.

Und ich sehe auch noch ganz anderes als das schöne pralle fröhliche Leben. Ich sehe neue und weitere und viel zu viele Leerstände von Geschäften in der „City“, kleine und auch größere und große. Und ich ahne und fürchte, dass diesbezüglich noch mehr kommen wird, dass also noch mehr gehen werden. Und ich mache mir Sorgen um Geschäftsinhaber*innen und um Angestellte. Und um Kulturstätten und die Veranstaltungsbranche, um Künstler*innen und Kulturschaffende, die besonders gebeutelt sind. Weil ihnen die Möglichkeit, ihrem Beruf nachzugehen, und Perspektiven fehlen, und weil sie auch durch viele Hilfsprogramm-Raster fallen. Perspektive Hartz IV – mit dem Effekt eines „gebremsten Sinkflugs“, wie es der eigentlich sehr gut gebuchte Wiesbadener „Boogie Baron“ Alexander von Wangenheim formulierte. Moment … besonders gebeutelt, hatte ich das nicht gerade über die Gastronomen geschrieben? Bitter, aber wahr: Es ist gerade nichts Besonderes, besonders gebeutelt zu sein.

Mein Mitgefühl haben alle, die jetzt aufgeben müssen. Meine größte Bewunderung haben alle, die jetzt nicht aufgeben. Meine besten Wünsche begleiten die einen wie die anderen. Und Zuversicht erst recht.

„Krisen führen einerseits zu Reaktionen wie Angst und Erstarrung, manchmal auch zu Hass. Wir können aber ebenso Neugier, Mitgefühl und Mut entwickeln und anfangen, Landeplätze für die Zukunft zu bauen“, las ich neulich in einem anderen Editorial, das der Verfasser Falk Zientz abschloss mit den Worten: „Denn als die Raupe meinte, die Welt sei zu Ende – da wurde sie zum Schmetterling.“ Wie passend zu unserer aktuellen Cover-Illustration von Johann Brandstetter, einem Motiv aus der laufenden klasse Ausstellung im Museum Wiesbaden.

In diesem Sinne: Lesen Sie diesen Sommer-sensor, lesen Sie nicht allzu viel über Corona. Die Pandemie beherrscht unser aller Leben. Aber da ist noch mehr. Genießen wir – mit unvermindertem Abstand –, was geht. Machen wir aus diesem sonderbaren Sommer einen wunderbaren Sommer.

Dirk Fellinghauer, sensor-Sommerlier

PS:

_ Eindrucksvolle „Schmetterling“-Perspektiven für ein künftiges Miteinander wurden in unserer Veranstaltung „Der visionäre Frühschoppen“ diskutiert – schauen Sie doch mal rein, die komplette Veranstaltung voller Inspirationen und Impulsen finden Sie hier:

__ Unser sensor kommt bisher – toi toi toi – einigermaßen ungebeutelt durch die Krise. Erfreulich, aber alles andere als selbstverständlich. Allen, die #sensordiestangehalten, ein so dickes wie demütiges Danke. Nach dieser Doppelausgabe wollen wir ab September wieder monatlich da sein. Und wir sind „jederzeit“ auf www.sensor-wiesbaden.de und in den sozialen Medien – auf Facebook, Instagram und Twitter – „da“. Folgen Sie uns!?